0559 - Kapitän Sensenmann
zitternden Fingern öffnete sie die Schachtel, holte ein Stäbchen hervor. Sie klemmte es zwischen die Lippen. Das Feuerzeug fiel ihr aus der Hand, als sie den Glimmstengel anzünden wollte. Sie schaffte es beim zweiten Versuch. Als sie den ersten Rauch einatmete, verschluckte sie sich.
Das Husten hallte durch den Raum. Auf dem Tisch stand eine kleine Schale aus Porzellan, die konnte sie als Aschenbecher benutzen.
Emily war tot, davon ging sie einfach aus. Wie sollte sie das dem Witwer beibringen. Er wußte schließlich, daß Emily zu ihr gefahren war. Wenn er sie vermißte, würde er kommen und sie besuchen, Fragen stellen. Ein Telefon besaß sie nicht, Cartwright mußte schon persönlich bei ihr erscheinen. Was sollte sie darauf antworten? Besaß sie überhaupt die Nerven, um cool zu bleiben?
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, weil sie von draußen Schritte hörte. Sie erschrak darüber, daß schon viel Zeit vergangen war.
Längst zeigte die Zigarette einen langen Ascherest.
Gayle kam zurück.
Plötzlich klopfte Harriets Herz schneller. Die vorherigen Probleme unterdrückte sie. Nun mußte sie sich voll und ganz auf ihre Tochter konzentrieren.
Gayle stieß die Tür auf.
Bevor sie noch über die Schwelle trat, flatterte etwas herein. Ein roter Vogel, der Papagei des Käpt’n Sensenmann. Wieder lachte er krächzend, bevor er sich auf einer Vitrine niederließ.
Gayle folgte ihm in den Raum. Auch sie ging nicht mehr so wie früher. Ihre Schritte und Bewegungen waren staksiger geworden, aber sie erreichte den Schein der Lampe.
Erst jetzt war sie für ihre Mutter genau zu erkennen. Harriet hob langsam den Kopf. Nur nicht zittern! hämmerte sie sich ein. Nur die Nerven behalten, sonst ist alles vorbei. Ich… ich … muß mich zusammenreißen.
»Nun, Mutter?«
Harriet lauschte dem Klang der Stimme nach. Sie war angesprochen worden, aber hatte dies nicht eine Fremde getan?
Daran mußte sie eigentlich glauben. Wenn sie aber ihren Blick in das Gesicht der Tochter warf, so stand Gayle tatsächlich vor ihr, auch wenn sie verfremdet aussah.
Es waren ihre Züge, es waren die Augen, aber da gab es auch die Haut, die sich verändert hatte.
Sie war dunkler geworden, wie von zahlreichen Blutergüssen übersät. Bläulichgrau, von der Stirn bis hin zu den Fingern. Die Nägel sahen bleich aus, und anders war auch der Ausdruck ihrer Augen geworden. Grausam, kalt, metallisch.
Unmenschlich…
»Was willst du, Gayle?« Es fiel ihr schwer, sie anzusprechen, aber sie mußte es tun.
»Ich möchte mit dir sprechen.«
»Dann tu es.«
Gayle setzte sich auf den zweiten Stuhl. Wieder hockten sich Mutter und Tochter gegenüber wie in der Nacht, als alles seinen Anfang genommen hatte und Käpt’n Sensenmann erschienen war.
Diesmal hatte sich einiges verändert.
Gayle lächelte und öffnete dabei den Mund. Die Zunge war zu sehen, oder war es etwas anderes?
So genau konnte Harriet es nicht erkennen. Jedenfalls besaß die Zunge keine normale Farbe mehr. Ein grauer Klumpen hatte sich zwischen die Zähne geschoben.
Vielleicht verfaulte sie schon innerlich? Die Flecken auf der Haut konnten damit in einem Zusammenhang stehen.
»Wer bist du, Gayle?«
»Deine Tochter, Mutter.«
»Ja und nein. Du sitzt vor mir wie ein normaler Mensch. Dennoch überkommt mich der Eindruck, daß du keiner bist. Du siehst zwar aus wie ein Mensch, aber du hast dich verändert. Du bist ein Roboter, über den man eine Haut gezogen hat. Das ist es, was ich meine. So und nicht anders kommst du mir vor.«
»Ich bin kein Roboter.«
»Was dann?«
Vor der Antwort verstärkte sich der Glanz in den Augen der jungen Frau noch. So etwas wie Stolz markierte die Blicke. »Ich bin hier, aber ich gehöre einem anderen. Ich habe mich von Käpt’n Sensenmann anwerben lassen, verstehst du?«
»Nein!«
»Er holte mich. Du erinnerst dich an die Nacht. Er holte, tötete mich, aber ich lebe trotzdem. Ich bin eine Piratin, eine untote Seeräuberin, die stolz darauf ist, zur Mannschaft des Kapitäns zu gehören. Das ist die Wahrheit, Mutter.«
Harriet hatte sich so etwas Ähnliches schon gedacht. Sie wollte es nur nicht glauben, starrte die Person vor ihr an und schüttelte sehr langsam den Kopf.
»Es stimmt.«
»Wie kannst du leben, wenn du tot bist.«
»Ich atme nicht.«
»Das ist keine Antwort. Ich will wissen, wie du leben kannst, obwohl du gestorben bist.«
»Die Kraft der Hölle sorgt dafür.«
»Nicht die des Kapitäns?«
»Beide. Er ist ein Verbündeter
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