0559 - Kapitän Sensenmann
einen tiefen Zug.
Aufstöhnend wischte sie über ihre Lippen. »Das tat gut, Mr. Sinclair.« Sie streckte mir die Flasche entgegen. »Da, nehmen auch Sie einen, zwei oder mehrere Schlucke.«
»Ich verzichte.«
»Betrunken läßt sich das Schicksal besser ertragen.«
»Wie meinen Sie das denn?« Die Frau legte den Kopf schief und schielte mich von der Seite her an. »Glauben Sie im Ernst, daß Sie dieses Haus oder die Umgebung hier noch lebend verlassen?«
»Das will ich doch hoffen.«
»Nein, keine Chance mehr. Sie haben doch den Nebel gesehen. Ich kann es Ihnen jetzt sagen, wo Ihr Kollege so dumm war und auf ihn zulief. Er bringt den Schrecken, denn in ihm befinden sich Käpt’n Sensenmann und seine Mannschaft. Die lassen kein Opfer aus, das kann ich Ihnen versprechen. Sie werden euch hoch oben an die Rah hängen und zuschauen, wie eure Leichen im Wind schaukeln.«
»Das glauben Sie?«
»Ich weiß es sogar. Ich habe es selbst gehört. Man hat es mir gesagt, Schnüffler.«
»Wer – der Kapitän?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Sinclair, es war meine Tochter Gayle.«
»Dann war sie hier?«
»Richtig. Sie ist gekommen, um mich zu besuchen. Es war einfach großartig von ihr. Sie lebt, Sinclair. Sie ist nicht tot, aber sie befindet sich auf dem richtigen Weg.«
»Das heißt, auf dem Schiff!«
»Genau, Sinclair. Gayle ist zu einem Mitglied der Mannschaft geworden. Sie verstärkt es jetzt, sie dient dem Kapitän, und sie tut es gern, denn sie wird ewig leben.«
»Wie die anderen verschwundenen Frauen?«
»Stimmt.«
Jetzt hatte ich die Lösung. Vielmehr den Beweis für meine vorherige Annahme bekommen. Die einzelnen Glieder hatten nur noch in die Kette hineingehakt zu werden brauchen, und schon war alles klar.
»Ich habe Ihre Tochter in der vergangenen Nacht nicht gesehen. Oder ist die schon so verwest, daß nur mehr ein Skelett von ihr zurückgeblieben ist?«
»Sie sieht normal aus, meine ich.«
»Wir werden sehen.« Ich ließ mich nicht aus der Ruhe bringen und ging zu einem der Fenster. Mein Blick fiel abermals auf die Nebelwand, die nähergerückt war.
Von Suko war nichts zu sehen. Ihn hatte die graue Wand in sich aufgesaugt. Der Inspektor hatte einen verdammt gefährlichen Part übernommen. Klar, daß ich mir Sorgen um ihn machte.
Ich drehte mich wieder um. Im gleichen Moment hörte ich das Quietschen und sah, wie im Hintergrund des Raumes eine Tür geöffnet wurde. Dort erschien eine Gestalt, eine Frau, die ich bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Aber Mrs. Bowman kannte sie. »Komm ruhig näher, Gayle, wir haben auf dich gewartet…«
***
Das also war Gayle Bowman!
Das Licht strahlte nicht besonders hell. Die zweite Tür lag deshalb etwas im Halbdunkel, und ich konnte die Person auch nicht so genau erkennen.
Allerdings machte sie mir den Eindruck eines völlig normalen Menschen. Sie hatte nichts Zombiehaftes an sich, und damit kannte ich mich leider aus, weil wir gegen diese lebenden Leichen schon oft genug gekämpft hatten. Sie verließ ihren Platz auf der Türschwelle und betrat den ziemlich großen Raum. Eilig hatte sie es nicht, sie setzte ihre Schritte normal. Ich konzentrierte mich auf ihr Gesicht, wurde jedoch abgelenkt, weil etwas von ihr ausging, das mich irritierte. Es war einfach der Geruch. Es stank nach brakigem, fauligem Wasser, nach Moder und Vergänglichkeit.
Also doch zombiehaft…
Sie trug eine Hose, einen Pullover. Beide Kleidungsstücke waren verschmutzt. Irgendwelche Reste klebten wie Schlangen am Stoff.
Ihre Schritte waren kaum zu hören. Sie nickte Mrs. Bowman zu und schaute mich an, während sie gleichzeitig stehenblieb.
»Das ist er, Gayle!« So stellte mich Harriet Bowman vor, und sie tat es mit einer haßerfüllt klingenden Stimme, als wäre ich ihr persönlicher Todfeind.
»Ja, ich wußte, daß er kommen würde. Das sagte ich dir gestern schon. Sinclair ist wie ein Magnet. Er bleibt an jeder Spur kleben. Ein widerlicher Mensch, aber diesmal hat er sich zuviel vorgenommen.«
»Ach ja?«
»Klar, Bulle.«
»Dazu gehören Sie auch.«
»Ich habe mal dazu gehört. Jetzt ist mein Chef der Teufel.« Sie sprach die Worte voller Stolz aus und mußte sich kurz danach meine Frage gefallen lassen.
»Nicht der Käpt’n?«
»Beide.«
»Du bist ein Zombie – oder?«
Sie kam näher. Jetzt erreichte sie auch der Lichtschein. Ich sah die blaugrauen Stockflecken in ihrem Gesicht. Die Haut wirkte so, als wäre sie dabei, allmählich zu verfaulen. Ein
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