0562 - Die Zeit der Reptilien
eine Entscheidung fiel, die Entwicklungen beeinflußte. In jeder Sekunde, mit jeder Entscheidung, kam eine neue Alternative hinzu. Und im Falle des Kamose über eine Zeitspanne von etwa 3500 Jahren.
Fast 1,3 Millionen Tage.
Fast 31 Millionen Stunden.
1,8 Milliarden Minuten, über 110 Milliarden Sekunden und ebenso viele Entscheidungen und entsprechende Existenzwahrscheinlichkeiten.
Selbst wenn sich vielleicht die Hälfte davon gegenseitig wieder aufhob, blieben immer noch genügend Unwägbarkeiten.
Sie alle ließen sich auf Null verringern, wenn man versuchte, die grundsätzliche Veränderung zu verhindern oder ungeschehen zu machen.
Zumindest annähernd auf Null - winzige »Spuren« hinterließ ein Aufenthalt in der Vergangenheit immer, aber diese Spuren gehörten zu jenen, deren Wahrscheinlichkeitslinien sich gegenseitig ausgleichen konnten.
Vorausgesetzt, der Zeitreisende löste durch eine Unachtsamkeit nicht noch ein Zeitparadoxon aus!
Zamorra atmete tief durch. Er sah Sid Amos an.
»Erzähl mir ein wenig mehr von deinen Erinnerungen«, verlangte er.
»Da gibt es nicht wirklich viel zu erzählen«, wich der Ex-Teufel aus. »Was ich damals tat, geht niemanden etwas an. Du wirst von meinem Wirken auch nicht viel mitbekommen, Zamorra. Es kann nur sein, daß wir einander begegnen, und dann bitte ich dich, mir aus dem Weg zu gehen. In jener Zeit sind wir Feinde, und es könnte zu einem noch größeren Paradoxon kommen, wenn wir uns bekämpften. Das ist dann aber noch tragbar und korrigierbar. Nur - wenn ich mir selbst begegne, dürfte es zur Katastrophe kommen.«
»Das heißt, ich muß dich also zähneknirschend gewähren lassen, während du deinen teuflischen Neigungen und Umtrieben nachgehst.«
Amos nickte.
War da nicht etwas wie ein Grinsen in seinen Augen?
»Weiter«, verlangte Zamorra unbehaglich. »Was ist nun mit Kamose? Ich soll ihn retten - vor wem? Wer will ihm ans Leder?«
»Das eben«, sagte Sid Amos trocken, »mußt du selbst herausfinden. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich kann dir nur einen Namen nennen: Sobek.«
***
Ägypten, rund 1500 Jahre vor Beginn der christlichen Zeitrechnung:
Immer wieder, wenn er sich unbeobachtet wußte, betrachtete Menem-Set das Messer.
Die Spuren daran erinnerten ihn immer wieder an das Sakrileg, das er begangen hatte: Er hatte einen Gott verletzt!
Und er selbst lebte noch! Der Gott hatte ihn nicht für seinen Frevel bestraft!
Je mehr Zeit verstrich, desto größer wurde Menem-Sets Furcht. Vielleicht wollte der Gott ein Exempel an ihm statuieren. Wollte ihn erst längere Zeit in Unsicherheit wiegen, um ihn dann von Tempelkriegern gefangennehmen und öffentlich hinrichten zu lassen!
Vor einem Gott gab es keine Flucht. Sobek würde ihn überall finden, wohin auch immer er sich wandte. Götter sehen alles. Sie sehen jeden.
Es half nichts, das Messer zu säubern oder fortzuwerfen, um alles abzuleugnen. Götter erlaubten den Sterblichen die Lüge nicht.
Menem-Set wünschte, er wäre nie in den Tempel eingedrungen. Aber es war geschehen, und sein Leben war verwirkt. Er war ein Toter auf Abruf.
Es gab nur eine Möglichkeit, vielleicht dennoch in Osiris und seinem Totenreich einzugehen. Er mußte dem Gott oder den Häschern des Tempels zuvorkommen - und sich selbst töten!
Doch er mußte auch Sorge tragen, daß sein Leib nicht achtlos verscharrt wurde, sondern daß jemand sich um ihn bemühte, um ihn zu Osiris gelangen zu lassen.
Er überlegte, wem er sich anvertrauen konnte.
Neter-Sekhet fiel ihm ein.
Der war ihm noch einen Dienst schuldig!
Zu ihm ging Menem-Set, um diesen Dienst einzufordern.
***
Neter-Sekhet war Beamter des Königs. Er befand sich in einer recht niedrigen Position; seine Aufgabe war es, Viehzählungen durchzuführen, endlose Inventarlisten anzulegen und den Wert all dessen zu errechnen, was er in seinen Listen aufgeführt hatte. Damit war er tagaus, tagein beschäftigt. Manchmal sogar an den Festtagen, dann jedoch nur bis zum Mittag, damit er Gelegenheit hatte, an den Zeremonien und Festivitäten teilzuhaben.
»Was ist es diesmal?« erkundigte er sich leicht gereizt, als Menem-Set bei ihm vorsprach. »Warum kommst du hierher? Es ist nicht gut, wenn man dich in meiner Nähe sieht. Jeder weiß, daß du ein Dieb bist!«
»Vielleicht will ich dich bestehlen«, grinste Menem-Set.
Eines von Bastets Kindern hockte ihm im Wege und putzte sich ausgiebig. Der Dieb gab der Katze einen Tritt, daß sie aufjaulend und böse
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