057 - Die Tochter des Werwolfs
lag in einem Schlafsack in der Ecke.
Es musste schon Nacht sein. Bernd Sommer spürte in allen Knochen, dass die Metamorphose begann. Er wollte sich gegen die Verwandlung zum Werwolf stemmen. Er versuchte sie aufzuhalten, was ihm unter Aufbietung aller Willenskraft für eine Zeit lang gelang. Aber er spürte, dass sein Bewusstsein wie gelähmt war. Gisela musste ihm etwas in den Tee getan haben.
Er konnte nicht aufhalten, was er unbedingt vermeiden wollte. Er wurde im Beisein der Frau, die er liebte, zum Werwolf.
»Gisela«, stöhnte er mit heiserer Stimme.
Sie öffnete die Augen, etwas verschlafen noch.
Schon spürte Bernd Sommer das Prickeln im Gesicht. Er wusste, dass ihm jetzt gleich Haare sprießen würden, dass er sich verwandeln musste.
»Geh weg, Gisela! Ich weiß nicht, ob diese Ketten halten. Was bezweckst du damit, was hast du dir dabei gedacht?«
»Sehr viel, Bernd. Ich liebe dich, was immer du auch bist. Ich will dich nicht verlieren. Ich habe dir ein Betäubungsmittel in den Tee getan, das ich in der Apotheke entwendete. Du wirst die ganze Zeit, die du ein Werwolf bist, gefesselt sein, und ich werde bei dir bleiben.«
»Gisela, du weißt nicht, was du tust! Als Werwolf bin ich eine Bestie. Wenn ich die Ketten zerreißen kann, bringe ich dich um.«
Die Stimme des Mannes wurde zu einem unkontrollierten Brüllen und Grollen. Vor den Augen der entsetzten jungen Frau wurde er zu einem Werwolf. Die Kleider platzten von seinem Körper, dunkle Haare sprossen. Das Gesicht wurde zu einer Schnauze mit mörderischen Reißzähnen, die Hände zu Klauen.
Der Werwolf zerrte an den Ketten.
Er tobte, brüllte und geiferte. Gisela Schneider starrte entsetzt. Sie erkannte in diesem Untier, dieser blutrünstigen Bestie, den Mann nicht wieder, den sie liebte. Am liebsten wäre sie davongerannt, aber sie zwang sich zu bleiben.
Allmählich wurde der Werwolf ruhiger, seine glühenden Augen schimmerten tückisch. Er untersuchte seine Fesseln, er wollte freikommen. Als es nicht gelang, legte er sich auf den Boden und winselte jämmerlich. Damit wollte er Gisela verleiten, in seine Nähe zu kommen. Aber sie durchschaute die List.
»Bernd«, flüsterte sie. »Mein Gott, Bernd.«
Ein schauriges Heulen war die Antwort. Die Werwolfbestie wurde nun zu einem schwarzen sibirischen Wolf. Es war das letzte Stadium der Verwandlung. Doch auch in Wolfsgestalt konnte die Bestie die Ketten nicht abschütteln. Die Fesseln um die Läufe vermochte sie zwar abzustreifen, aber zwei Ketten um den Leib hielten sie fest.
Die Augen des Wolfes glühten, etwas Unheimliches ging von dem Untier aus, etwas Dämonisches, Übernatürliches. Urängste erwachten in Gisela, aber sie wich nicht aus dem Bunker.
Am nächsten Tag wurde der Werwolf für kurze Zeit zu Bernd Sommer, doch er war nicht ansprechbar. Der nackte Mann stieß nur tierische Laute aus und schnappte nach Giselas Hand, als sie ihm eine Schale mit Wasser hinstellte.
Die zweite Vollmondnacht kam, wieder erschütterte Geheul und Gebrüll den Bunker. Gisela litt unsäglich, dunkle Schatten zeichneten sich unter ihren Augen ab. Ihr liebendes Herz war es, das ihr den Mut zum Durchhalten gab. Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, waren die Vollmondnächte vorbei.
Bernd Sommer wurde wieder er selbst. Bleich und abgezehrt hing er in den Ketten. Sein fiebernder Blick war auf Gisela gerichtet. Auch sie war bleich, ihre Augen unnatürlich groß.
»Was habe ich getan?«, seufzte Bernd. »Du weißt jetzt alles. Gib zu, dir graut vor mir, du wendest dich von mir ab.«
In seinen Augen sah sie, dass nichts mehr von der Werwolfbestie in ihm war. Da trat sie auf den beschmutzten und gefesselten Mann zu und umarmte ihn. »Nein, Bernd, nein. Schau, unser Experiment ist geglückt.«
Er brachte kein Wort hervor. Er wusste nicht, was sie meinte.
»Wir können zusammenbleiben. Ich werde dich immer bei Vollmond anketten, dann vermagst du kein Unheil anzurichten. Du kannst ja nichts dafür, dass du zu einem Werwolf geworden bist. Für mich bist du immer der sanfte, liebe Mann, der anständige Mensch. Der andere, der Werwolf, ist eine Ausnahmeerscheinung, eine Krankheit, die wir bekämpfen müssen – gemeinsam.«
Bernd Sommer war so gerührt, dass er sich abwenden musste, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Nie hatte er geglaubt, dass eine Frau, die alles über ihn wusste, Liebe für ihn empfinden könne.
»Überleg dir genau, was du tust, Gisela! Es kann leicht die Hölle für dich
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