057 - Die Tochter des Werwolfs
ernst meinte.
»Machen Sie keinen Fehler, ich bin wirklich hier, um Ihrem Mann zu helfen. Wenn Sie mich schon nicht zu ihm führen wollen, dann erzählen Sie mir wenigstens die ganze Geschichte. Wer hat den Brief aufgegeben? Waren Sie es?«
»Ja, ich war es. Ich habe einen schlimmen Fehler gemacht. Also gut, Sie sollen die Geschichte hören, Mr. Sullivan. Die Geschichte von mir und meinem Mann, der ein Werwolf ist.«
»Wann haben Sie den Brief geschickt?«
»Zur Zeit des letzten Vollmonds. Sie werden bald verstehen, weshalb. Ich hatte völlig den Kopf verloren.«
Trevor Sullivan fragte sich, weshalb der Brief nahezu vier Wochen bis nach London gebraucht hatte. Aber dann sagte er sich, dass das nebensächlich war. Es war keine Luftpostsendung gewesen, vielleicht war eine Verzögerung bei der Post eingetreten, oder er hatte eine Zeit lang beim Secret Service gelegen.
Das war nicht wichtig. Wichtig war einzig und allein, wie es sich mit Bernd Sommer verhielt, dem Mann, der ein Werwolf war. Trevor Sullivan durfte die Hände herabnehmen, aber nicht in die Tasche greifen. Er hörte Gisela Sommer zu.
Bernd Sommer wollte sterben. In dem idyllischen Taunusstädtchen, das weitgehend von den Schrecken des Krieges verschont geblieben war, hatte er seinen Entschluss gefasst. Der Brief steckte in seiner Tasche. Noch stand die Anschrift nicht auf dem Kuvert. Er sollte an Trevor Sullivan abgehen, an das Gefangenenlager im Westerwald.
Bernd Sommer ging zur Post. In dem Städtchen gab es kaum Männer in jüngerem und mittlerem Alter. Viele waren im Krieg gefallen, viele noch in Gefangenschaft. Auf dem Marktplatz stand ein amerikanischer Schützenpanzer, die Luke war wegen der Kälte geschlossen.
Vor dem Postschalter stand eine lange Schlange. Bernd Sommer musste warten. Vor ihm stand eine Frau, deren selbst geschneidertes Kleid ihre schlanke, gutgeformte Figur nicht verbergen konnte. Der Mann ertappte sich dabei, wie er sie ansah. Als hätte sie seinen Blick gespürt, drehte sie sich um.
Er sah schwarzes Haar, dunkle Augen und ein junges Gesicht. Sie war bildschön … Bernd Sommer gab es einen Stich. Er sagte sich, dass es für ihn keine Beziehung geben durfte, dass er sterben musste, um die Welt von einem Fluch zu befreien.
Aber er konnte nicht verhindern, dass sein Herz schneller schlug und dass die Verzweiflung von ihm wich. Die junge Frau kam vor ihm an die Reihe. Sie erhielt ein großes Paket, das in den Staaten aufgegeben war. Bernd Sommer kaufte eine Briefmarke und klebte sie auf den Briefumschlag.
Er stellte sich an den Tisch in der Ecke des schäbigen kleinen Raumes, der von einem eisernen Ofen beheizt wurde, und blickte gedankenverloren auf das Kuvert, den am Tisch festgemachten Schreibstift in der Hand, aber ohne zu schreiben.
»Wollen Sie jetzt schreiben oder nur dastehen und schauen?«, fragte eine Frauenstimme. »Wenn Sie nur schauen wollen, geben Sie mir bitte den Stift.« Es war die schöne Schwarzhaarige. Ihre Stimme klang freundlich, und Freundlichkeit war etwas, was Bernd Sommer lange entbehrt hatte.
Er gab ihr den Stift, sie schrieb ihre Karte, und dann kamen sie ins Gespräch. Bernd Sommer fragte, was in dem Paket sei, und er erfuhr, dass es eine Sendung von entfernten Verwandten in den Staaten war. Plötzlich verspürte er Angst, die junge Frau könne davongehen und er würde sie nie wieder sehen.
»Darf ich … darf ich Sie in die Konditorei an der Ecke einladen?«, fragte er. »Sie würden mir eine große Freude machen.«
Er glaubte, sie würde ablehnen oder eine Ausrede finden. Aber zu seinem Erstaunen sagte sie:
»Gern, wenn Sie unbedingt Geld ausgeben wollen. Aber wollen Sie nicht vorher Ihren Brief einwerfen?«
»Das hat Zeit«, sagte Bernd Sommer, und er steckte den Brief in die Jackentasche.
In der Konditorei gab es Ersatzkaffee und kleine Kuchenstücke, die wie Leim schmeckten. Dafür musste Bernd Sommer kostbare Lebensmittelmarken opfern. Eine alte Frau bediente, draußen lag Schnee, und der Himmel war wolkenverhangen. Die Menschen sahen niedergeschlagen aus und waren schäbig gekleidet, aber für die beiden jungen Menschen in der Konditorei schien die Sonne. Vergessen waren Lebensmittelmarken und Ruinen, Schwarzmarkt und geflickte Schuhe, Hunger und die Angst vor der ungewissen Zukunft. Irgendwann im Verlauf des Gesprächs nahm Bernd Sommer die Hand der jungen Frau, die Gisela Schneider hieß. Er erzählte ihr, dass er erst vor ein paar Tagen aus einem britischen
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