057 - Die Tochter des Werwolfs
die Spur nicht mehr auf, sei es, weil sie sie nicht mehr fanden, sei es, weil ihre instinktive Scheu sie davor zurückschrecken ließ.
Der Werwolf befand sich zunächst in Sicherheit. Als die Morgendämmerung anbrach, setzte eine teilweise Rückverwandlung ein. Zwar konnte er jederzeit sein tierisches Aussehen annehmen, wenn Gefahr drohte, aber tagsüber nahm er menschliche Gestalt an und verfügte über Teile seiner menschlichen Fähigkeiten.
Zur Not hätte er für einige Stunden als der Mensch auftreten können, der er war. Seine Regungen waren jedoch ins Tierische vergröbert. Er fiel brutal über die Eurasierin her. Mit gutturalen Lauten drohte er ihr, sie auf der Stelle umzubringen, wenn sie ihm nicht zu Willen wäre. Vor Angst zitternd fügte sich die Frau den Wünschen des Wolfsmannes, der sie fesselte und knebelte. Er litt brennenden Durst. Er streifte durch die Villa, aber das Wasser war abgestellt worden.
Im Keller verlor Henicke die Kontrolle über sich und wurde zu einem schwarzen Wolf. Knurrend strich er umher, durchstreifte die Villa und das Gelände.
Plötzlich hörte er Stimmen. Zwei Landstreicher, die einen Unterschlupf suchten, waren über den Zaun gestiegen.
»Wenn ich dir sage, Karl, die Villa steht leer«, sagte einer der beiden Männer.
Da fegte der riesige Wolf aus den Büschen. Den einen Landstreicher, einen zerlumpten, bärtigen Mann, biss er in die Hand. Dem andern wollte er die Kehle zerfleischen, er sprang ihn an.
Der Mann wehrte sich, seine schäbige Jacke und sein Hemd zerrissen, gaben die behaarte Brust frei. Jaulend wich der Werwolf zurück. Der Landstreicher trug ein großes Kreuz an einer Lederschnur um den Hals. Die beiden Männer nutzten die Verwirrung der Bestie und flüchteten über die Mauer.
Der Werwolf lief auf dem Grundstück auf und ab. Er wusste, dass es gefährlich war, die fliehenden Landstreicher bei Tag zu verfolgen. Er durfte sich nicht sehen lassen.
Langsam trottete er ins Haus zurück. Hier setzte die Rückverwandlung ein. Er nahm die menschliche Gestalt des Jürgen Henicke an. Seit er sich am Abend zuvor als Werwolf die Kleider vom Leib gefetzt hatte, war er nackt. Er hockte sich nun neben die Eurasierin auf den Boden und wartete auf den Abend, auf die Nacht des Werwolfs.
»Hab doch Erbarmen mit mir«, flehte die junge Frau. »Lass mich frei! Ich werde gewiss nichts weitererzählen. Mir ist so kalt, und ich habe Hunger.«
Sie trug nur einen leichten Mantel um die Schulter, nachdem Henicke sich an ihr vergangen hatte.
Der große Mann mit dem muskulösen Körper und dem blondierten Haar knurrte. Er schlug mit der Hand wie mit einer Pranke zu, traf sie ins Gesicht.
»Sei still«, stieß er guttural hervor. »Sonst bringe ich dich um.«
Delila zitterte vor Furcht und wagte kein Wort mehr zu sagen.
Früh brach die Dämmerung ein, der Vollmond ging am Himmel auf. Vor den Augen der entsetzten Frau verwandelte sich Henicke in einen Werwolf, in das Ungeheuer, das aufrecht gehen konnte, am ganzen Körper behaart war und ein wölfisches Gesicht mit glühenden Augen und bleckenden Zähnen zeigte. Zum zweiten Mal sah sie die Verwandlung. Diesmal umfing sie keine gnädige Ohnmacht.
Henickes Sinne waren geschärft, und er spürte, dass sich Menschen näherten. Zweifellos hatten die Landstreicher die Polizei alarmiert.
Es war schon dunkel, als zwei Streifenwagen eintrafen. Ein Polizist öffnete mit einem Dietrich das Tor zur Einfahrt, die Obdachlosen begleiteten ihn.
»Also, wo habt ihr den Wolf gesehen?« Auch die anderen Polizisten kamen nun näher.
»Dort in den Büschen! Es war ein riesiges Vieh mit glühenden Augen und fingerlangen Zähnen!«
»Er muss noch hier sein«, meinte einer der Beamten. »Es war abgeschlossen … und über eine zwei Meter hohe Mauer kann auch ein großer Wolf nicht springen. Wir sollten die Waffen ziehen, Männer.«
Auch Delila hatte die Stimmen gehört. Sie begann gellend zu schreien. »Hilfe, Hilfe, zu Hilfe! Ich werde in der Villa von einem Werwolf gefangen gehalten! So helft mir doch!«
Die Polizisten stürmten in die Villa. Die Hilfeschreie wurden zu einem grässlichen Schrei, dann herrschte Stille. Ein Beamter riss im Erdgeschoss die Tür des Raumes auf, aus dem die Schreie gekommen sein mussten. Er leuchtete mit der Taschenlampe hinein.
Auf dem Boden lag die Leiche einer schwarzhaarigen Frau. Ihre Kehle war zerfetzt, ihre Kleidung blutgetränkt. Über ihr stand ein Monster, eine behaarte Gestalt mit einem Wolfsrachen und
Weitere Kostenlose Bücher