057 - Die Tochter des Werwolfs
Sommer eingesetzt, von dem er berichtete, dass er ein kranker Mann sei, dessen Krankheit durch die Gefangenschaft noch verstärkt werde. Eine Gefahr sahen die Lagerleitung und das Oberkommando der Militärverwaltung in Bernd Sommer nicht. Er wurde mit der Auflage, sich wöchentlich einmal zu melden, an einen Ort seiner Wahl in Deutschland entlassen.
»Wohin wollen Sie sich wenden, Herr Sommer? Ich muss es aufschreiben.«
Sommer überlegte nur kurz.
»Ich bin aus der Frankfurter Gegend, der Taunus hat mir schon immer sehr gefallen. Ich denke, ich gehe in irgendein Taunusstädtchen, das mir zusagt. Schreiben Sie Bad Homburg auf.«
Er schüttelte Trevor Sullivan die Hand. Er war jetzt ein freier Mann. Er besaß nur das, was er auf dem Leibe trug.
»Was werden Sie jetzt machen, Herr Sommer?«
»Ich wollte einmal Physik und Mathematik studieren, aber das war vor dem Krieg. Ich glaube nicht, dass ich mich noch einmal in einen Universitätsbetrieb einfügen könnte. Also werde ich zunächst tun, was sich gerade bietet, und später weitersehen. Vor allem will ich leben, denn dazu hatte ich bisher wenig Gelegenheit, aber …«
Er brach mitten im Satz ab, sein Gesicht verdüsterte sich.
»Haben Sie Sorgen, Herr Sommer?«, fragte Trevor Sullivan.
Draußen fiel der erste Schnee, in der Baracke war es gemütlich warm. Es roch nach Zigarettenrauch, und aus dem Nebenzimmer klapperte die alte Schreibmaschine der Sekretärin.
Sommer kämpfte einige Augenblicke mit sich selbst.
»Nichts, wobei Sie mir helfen könnten, Captain Sullivan. Mit meinen Anfällen muss ich selber fertig werden. Ich hoffe, sie bleiben mit der Zeit von selbst aus. Sie haben sehr viel für mich getan, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen.«
Bernd Sommer ging aus der Baracke und aus Trevor Sullivans Leben, ein schmächtiger Mann mit einem schäbigen, geflickten Mantel und einer billigen Brille, die ein Stück Gasmaskengummi am Kopf hielt. In der nächsten Vollmondnacht wurde kein Wolf im Lager gesehen. In jener Nacht, als Leutnant Philby starb, war er trotz der MG-Treffer spurlos verschwunden.
Noch vor Jahresende wurde Trevor Sullivan nach Kaiserslautern versetzt. Er hörte nie wieder etwas von Bernd Sommer.
Der Mann im Büro der Mystery Press betrachtete den Brief, der in einem kleinen Taunus Städtchen aufgegeben worden war. Bernd Sommer hatte sich damals für eine andere Stadt als Bad Homburg entschieden.
Die lange zurückliegenden Ereignisse rollten sich noch einmal vor Trevor Sullivans geistigem Auge ab.
Es war verblüffend, wie genau manchmal die Erinnerung arbeitet. Er konnte sich sogar noch an den Geruch nach Erbsensuppe erinnern, der jede Woche dreimal über dem Lager gehangen hatte. Jahrzehntelang hatte er nicht mehr an jene Zeit zurückgedacht.
Jetzt wusste er, dass schwarze Magie und übernatürliche Kräfte im Spiel gewesen waren. Jener geheimnisvolle Wolf war ein Werwolf gewesen. Sullivan wusste noch genau, dass die sonst so gefährlichen Schäferhunde immer geflüchtet waren, wenn sie seiner ansichtig wurden.
Natürlich wurde nie festgestellt, wer den Tod der Männer verschuldet hatte, die mit zerrissenen Kehlen aufgefunden worden waren. Racheakte einer Lagermafia vermutete man. Andere Erklärungen lehnte jeder ab, und auch Trevor Sullivan hatte damals über schwarze Magie und Spuk nur gelacht.
Erst viel, viel später hatte er erkannt, dass das keineswegs Hirngespinste waren.
Er fragte sich, wer wohl der Werwolf gewesen war. Aller Wahrscheinlichkeit nach Bernd Sommer, der Mann, der ihm kurz nach seiner Entlassung einen Brief geschrieben hatte, der ihn erst viele Jahre später erreichte.
Der Brief musste Aufklärung bringen. Trevor Sullivan las.
Lieber Captain Sullivan,
ich schreibe Ihnen, weil Sie der Einzige sind, an den ich mich wenden kann. Die nachstehende Geschichte wird Ihnen wirr und grausig vorkommen, aber es ist die reine Wahrheit. Ich, Bernd Sommer, bin ein Werwolf. Ich war jener Wolf, der im Kriegsgefangenenlager gesehen wurde, und ich habe die vier Männer umgebracht. Ich konnte nicht anders, der Fluch des schwarzen Blutes zwang mich dazu. Ich habe mir aber immer Opfer ausgesucht, die es verdient hatten. Das Ganze begann, als ich im Sommer 1944 als Oberleutnant der Wehrmacht mit einem Sabotageauftrag nach Sibirien vorstieß. Ich wurde angeschossen, als ich deutsche Kriegsgefangene aus einem Lager zu befreien versuchte, und konnte mich mit letzter Kraft in einen Wald retten. Dort wäre ich gestorben, aber eine
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