057 - Im Banne des Unheimlichen
ich mich des Gedankens nicht erwehren, wie leicht es doch wäre ...«
»Ich möchte Mr. Bullott sprechen«, sagte sie plötzlich.
Bill hatte bereits bedauert, daß er das dem Inspektor gegebene Versprechen gebrochen hatte, aber es war nun einmal geschehen.
»Ich werde Sie hinunterführen.«
Er atmete erleichtert auf, als Bullott beim Anblick des Mädchens eher amüsiert als ärgerlich schien.
»Ich dachte es mir, daß er es Ihnen erzählen würde! Kommen Sie herein, Miss Stone, und setzen Sie sich.«
»Ich bin gekommen, um Sie etwas zu fragen, Mr. Bullott. Droht wirklich jemandem ernstlich Gefahr?«
»Hier auf der ›Escorial‹? Ja, einigen Leuten schon.«
»Mir?«
Er sah sie verdutzt an.
»Das weiß ich nicht - aber ich glaube schon. Sie wollen doch die Wahrheit hören, nicht wahr?«
»Kann man dieser Gefahr nicht irgendwie entgehen? Kann man niemanden verständigen?«
»Nein. Wenn wir mit der Eisenbahn führen, wäre es etwas anderes. Wir könnten die Notleine ziehen, der Zug hielte an, der Zugführer würde kommen und uns fragen. Aber nichts kann einen Ozeandampfer aufhalten als eine Klippe, ein Eisberg oder allenfalls ein ›Mann über Bord‹. Und selbst in diesem Fall hält der Dampfer nicht lange. Wir müssen durchhalten. Ich habe den Offizieren meinen Verdacht mitgeteilt, aber sie haben mich angesehen, als hielten sie mich für verrückt. Meine einzige Hoffnung ist der Funkspruch, den ich nach Scotland Yard gesendet habe.«
»Was erwarten Sie davon?« fragte sie.
»Kennen Sie Halifax? Dort liegen zwei schnelle britische Kreuzer, die ›Sussex‹ und die ›Kent‹. Ich habe um ihr Geleit gebeten.«
Bill sah den Inspektor entsetzt an.
»Das haben Sie nicht getan! Was für ein Risiko würden Sie damit auf sich geladen haben!«
»Ich würde auch ein noch größeres auf mich nehmen«, antwortete Bullott. »Der Gedanke ist mir eines Nachts gekommen, als ich dort unten in der Hitze arbeitete. Ich habe das Chiffrebuch bei mir, dessen wir uns in besonderen Fällen bedienen. Glücklicherweise gibt es eine Chiffre für ›Kent‹ und eine für ›Sussex‹, und so verstand der Funker nicht, was ich telegrafierte. Das war meine letzte Tat, bevor ich mich in diese Kabine verkroch. Den ganzen Morgen hielt ich mich unten zwischen den Postsäcken versteckt. Sie würden es nicht für möglich halten, wie gefährlich der Weg bis zu dieser Kabine war. Ich mußte während der kurzen Wanderung alle möglichen Schlupfwinkel aufsuchen - Luftschächte, Speigatts, Laternenkammern und ähnliches. Hätte man mich auch nur eine Sekunde lang gesehen - ich wäre ein toter Mann gewesen.«
»Doch nicht heute morgen bei hellichtem Tag?«
»Ja, bei hellichtem Tag! Wo ist Benson?«
»Lord Lowbridges Diener? Der ist bei meinem Onkel«, sagte Betty.
»Es wird harte Arbeit geben ... Nein, Miss Stone, Sie können nichts für mich tun, nur das eine - niemandem zu sagen, daß ich wieder aufgetaucht bin.« Bullotts Hand fuhr unters Kopfkissen und zog einen kleinen Browning hervor. »Haben Sie je mit einer Pistole geschossen?«
»Ja, auf der Bühne.«
»Nun, hoffentlich werden Sie sie in diesem Drama nicht brauchen. Sie ist geladen. Können Sie sie irgendwo verstecken - vielleicht in Ihrer Handtasche?« Er warf einen Blick auf die kleine Tasche, die an ihrem Handgelenk hing. »Recht so! Und vergessen Sie nicht, mit dem Daumen zu entsichern, bevor Sie abdrücken. Mit diesem kleinen Ding kann man neun Männer umlegen.«
»Aber soll ich nicht doch Mr. Stone von der Sache erzählen?«
»Je weniger Leute darum wissen, desto besser«, meinte er. »Es wäre vielleicht klug gewesen, den Passagieren der ersten Klasse einen Wink zu geben. Aber solange dazu Zeit war, wußte ich selbst noch nicht genug. - Sie können den Schlüssel innen steckenlassen, Holbrook - ich glaube, ich kann jetzt schon selbst auf- und zuschließen. Mit meiner Wunde ist es sehr viel besser geworden.«
Bill und Betty hörten, wie er hinter ihnen die Tür verschloß.
»Was halten Sie von der Sache?« fragte sie, als sie das Deck betraten.
»Und Sie?«
»Sie meinen, ob ich mich fürchte? Jetzt mehr. Wenn man nur wüßte, von welcher Seite und welche Gefahr droht...«
»Mir geht es auch so«, versicherte Bill. »Die Ungewißheit, die Erwartung des Angriffs machen nervös.«
Er seufzte tief.
»Warum diese Seufzer?« fragte sie lächelnd.
»Ich möchte wissen, ob die ›Sussex‹ und die ›Kent‹ wirklich kommen werden. Kriegsschiffe sind mein
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