0574 - Der chinesische Tod
wie ein kleiner Spaß im Vergleich zu dem, was dann auf dich zukommt.«
»Ich weiß… ich …« Als er den Druck nicht mehr spürte, wurden seine Knie trotzdem weich. An der Wand rutschte er langsam nach unten und schaute nach rechts, wo Osa bereits auf die Treppe zuschritt.
Im Gegensatz zu sonst, war das Haus totenstill. Es hatte sich blitzartig herumgesprochen, wer zurückgekehrt war. Die Menschen versteckten sich in ihren Wohnungen, denn sie alle ahnten, welche Gefühle Osa durchtosten.
Da hatten sie nicht unrecht.
Mit gezogener Waffe und versteinertem Gesicht schritt die Halbchinesin die Stufen der Treppe hoch. Sie wollte in den zweiten Stock und dort erfahren, was Tiau in der Wohnung gesucht hatte. Einen Grund konnte sie sich nicht vorstellen.
Ihre hart aufgesetzten Tritte hinterließen Echos. Nichts bewegte sich in ihrem Gesicht, wo sich die Augen in den Höhlen als dunkle Eisperlen abzeichneten.
Trotz ihres inneren Aufruhrs wirkte sie ruhig. Nicht einmal Schweiß rann über die Handflächen.
Vor der Wohnungstür verhielt sie den Schritt. Sie wurde zu einem Menschen, das Roboterhafte fiel von ihr ab, und so etwas wie ein Gefühl des Schmerzes zeichnete ihre Züge.
Flüsternd sprach sie den Namen der Mutter aus. Wenn sie früher in die Wohnung zurückkehrte, war sie immer belegt gewesen. Jetzt würde sie leer sein.
Osa mußte sich einen innerlichen Ruck geben, um die Klinke nach unten zu drücken.
Hart stieß sie die Tür auf, ging über die Schwelle, schaute in den Raum – und blieb abrupt stehen.
Die Wohnung war nicht leer.
Auf dem Bett lag ihre tote Mutter!
***
Bisher hatte sich Osa beherrschen können. In diesem Augenblick jedoch brannten die Sicherungen bei ihr durch. Einen gequälten Schrei ausstoßend, wankte sie vor. Das Bett bewegte sich vor ihren Augen, und sie überkam das Gefühl, durch einen Nebel zu gehen, dessen Schwaden aus Händen bestanden, die sie zurückhalten wollten.
Vor dem Bett sank sie in die Knie. Sie störte nicht einmal der Leichengeruch, als sie ihren Kopf gegen die Schulterecke der Toten lehnte und anfing zu weinen.
Osa verspürte echte Trauer. Das Schluchzen schüttelte ihren Körper durch. Die Schulterknochen hoben und senkten sich. Die Beretta lag neben ihr, Tränen rannen an den Wangen entlang und weiter in die Kleidung der Toten.
Das Mädchen verlor das Gefühl für Zeit. Irgendwann, Osa wußte nicht einmal ob Stunden oder Minuten vergangen waren – hob sie den Kopf, wischte die Tränen fort und sah auch die Wunde dicht über dem Herzen, wo Man Lei von dem Messer getroffen worden war.
»Ein Messer!« flüsterte sie. »Es war ein Messer, das sehe ich. Und mit einem Messer werde ich auch deinen Mörder in die Hölle schicken, das schwöre ich dir, Mutter. Du bist gestorben, doch andere werden ebenfalls daran glauben müssen.« Sie hob den Kopf an und streichelte mit beiden Handflächen die kalten Wangen der Leiche.
»Sie haben dich hergebracht, vielleicht als Warnung für mich, aber ich werde diesen Tiau finden, und er soll alle Qualen der Hölle erleiden. Ich hole ihn mir, ich vernichte diesen Mörder!«
Sie gab sich einen Ruck, faßte nach rechts und wollte die Beretta aufheben.
Osa griff ins Leere – erschrak und hörte hinter sich eine Stimme.
»Ich habe mir mein Eigentum wieder zurückgeholt, Osa!«
***
»Sinclair!«
Sie sprach meinen Namen aus, als würde sie sich davor ekeln. Das war mir egal.
»Stimmt, ich bin es!«
Sie kam langsam hoch. Osa wirkte, im Gegensatz zu unserer ersten Begegnung, völlig verändert. Nichts war mehr von der Härte in ihren Augen und in ihrem Gesicht zu lesen. Trauer überflutete es wie eine große Welle. Sie hatte geweint, sie hatte eine sehr menschliche Regung gezeigt, das wiederum gab mir Hoffnung.
Allerdings war ich vorsichtig. Bei Menschen wie Osa konnte Trauer und Leid radikal umschlagen in einen menschenverachtenden Haß. Ein Extrem, das ich auf keinen Fall akzeptieren konnte.
»Ihre Mutter?« fragte ich sicherheitshalber.
»Ja…«
»Wie kommst du hierher? Wußten Sie es?«
»Tiau muß sie gebracht haben. Jemand erzählte es mir. Er hat sie hergeschleppt.«
»Weshalb?«
»Ich weiß es doch nicht. Wahrscheinlich sollte es sich herumsprechen. Vielleicht wollte man mich herlocken.«
»Was man ja geschafft hat.«
»Das stimmt, Sinclair. Doch bin ich freiwillig gekommen, und ich werde mir ihre Mörder vorknöpfen. Schauen Sie sich die Wunde an. Sie ist durch ein Messer umgebracht worden, und ich werde
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