0574 - Der chinesische Tod
ihren Mörder ebenfalls durch ein Messer töten.«
»Kennen Sie ihn?«
»Nein, es sind viele.«
Meine Stimme klang ernst, als ich die Antwort gab. »Sie wissen, Osa, daß ich eine private Rache nicht dulden kann. Wir sind hier nicht im Wilden Westen, hier herrschen Gesetze, an die wir uns halten müssen. Sie ebenso wie ich.«
»Gesetze?«
»So ist es!«
Sie lachte mir ins Gesicht. »Was sind das nur für Gesetze, die meine Mutter nicht haben beschützen können. Sagen Sie es, Sinclair! Welche Gesetze sind das?«
»Nicht perfekt, ich weiß. Aber man hat das Beste getan.«
»Ja, das Beste.« Sie warf einen Blick auf die Tote. »Wollen Sie mich aufhalten, Sinclair?«
»Ich muß es!«
»Und wie? Sie suchen doch auch Ihren Freund. Wir könnten uns zusammen auf den Weg machen.«
»Im Prinzip schon. Nur werde ich nicht hinter Ihnen stehen, Osa. Sie können nicht verlangen, daß ich mich mit jemandem verbünde, der Mord auf seine Fahne geschrieben hat.«
»Gut, das verstehe ich.« Sie breitete die Arme aus. »Und wenn ich Ihnen verspreche, daß ich mich ändere?«
»Würde ich Ihnen nicht glauben.«
Osa lachte kichernd. »Gut, Sinclair, wirklich gut. Ich an Ihrer Stelle würde ebenso denken.«
»Dann sind wir uns einig.«
Osa hob die Schultern. »Sie machen einen Denkfehler, Bulle. In dieser Gegend kennen Sie sich nicht aus, aber ich. Ich könnte leichter herausfinden, wohin man Ihren Freund und Kollegen geschleppt hat. Ihnen würde man keine Antwort geben.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
Fast bedauernd schaute sie mich an. »Wenn Sie einen Chinesen zum Freund haben, müßten Sie einiges über unsere Mentalität wissen, Sinclair. So leicht kommen Weiße nicht an Asiaten heran. Sie werden den Langnasen gegenüber immer mißtrauisch bleiben. Da kommen Sie nicht durch. Es ist wie eine Mauer. Hier halten die Menschen zusammen oder werden dazu gezwungen, zusammenzuhalten.« Mit dem Zeigefinger zielte sie auf mich. »Zudem haben Sie keine Zeit zu verlieren. Der chinesische Tod ist schnell, gefährlich und grausam.«
»Wie bitte?«
»So werden die Krüppel auch genannt, der chinesische Tod.«
»Haben Sie den Ausdruck erfunden?«
»Nein, es sind Weiße gewesen. Missionare, die während der Kaiser-Dynastien in das Reich der Mitte gekommen sind, um die Menschen an den christlichen Glauben zu gewöhnen. Was sie nicht geschafft haben. Das spielt keine Rolle. Zurückgeblieben ist der Begriff ›der chinesische Tod‹, alles andere zählt nicht.«
»Den müssen wir stoppen.«
»Das schaffen Sie nicht.«
»Mal sehen.«
»Wir brauchen die Mörder, Sinclair!«
»Haben wir dann auch den chinesischen Tod ausgeschaltet?«
»Ich glaube nicht.«
»Eben!«
Sie funkelte mich an. Das ihr eine scharfe Antwort auf der Zunge lag, konnte ich sehen, aber sie sagte nichts und verschluckte die Worte, als würde sie etwas herunterwürgen. »Sie müssen sich auf mich verlassen, Sinclair. Nur ich kann in diesem verdammten Haus herausfinden, wo sich Tiau aufhält.«
Ich nickte ihr zu. »Ja, damit bin ich einverstanden. Gehen wir gemeinsam.«
»Ja – los.«
»Nach Ihnen, Osa.«
Sie ging an mir vorbei. »Trauen Sie mir nicht?«
An der Tür blieb sie stehen und hob die Schultern. Einen letzten Blick warf sie auf ihre Mutter. Die sonst so harten Augen schwammen in Tränen. Dann ging sie weg.
Diese Person war gefährlich. Osa hatte nicht aufgegeben, da konnte sie sagen, was sie wollte.
Sie ging vor mir her. Der Flur war menschenleer. Nicht eine Person begegnete uns oder schaute aus ihrer Wohnung. Wir kamen uns beide fremd vor, besonders ich.
An den Wänden sah ich hin und wieder Zeichnungen. Viele hatten als Motiv den Drachen. Aber auch Schlangen, Hund, Ratten sowie andere Tiere aus der chinesischen Mythologie waren abgebildet.
Zwei Stufen blieb ich hinter ihr. »Wo wollen Sie eigentlich hin?« fragte ich.
»Zu Tiau.«
»Er ist nicht da, denke ich.«
»Wir werden sehen.«
Der alte Mann wohnte im Erdgeschoß. Ziemlich weit hinten im Hausflur, von der Beleuchtung gerade noch erreicht. Für einen Fremden war die Tür nicht schnell zu finden, doch Osa wußte Bescheid und blieb vor ihr stehen.
Sie probierte die Klinke und konnte die Tür aufschieben. Plötzlich war sie vorsichtig geworden. Ihre Haltung spannte sich, noch übertrat sie nicht die Schwelle.
»Lassen Sie mich…«
»Nein, Sinclair, ich gehe.« Mit schnellen Schritten huschte sie in den Raum.
Tiau bewohnte ein Zimmer. Es war relativ groß, bot nicht nur
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