0578 - Die Geisel
unbeweglich stehen, als wollte er dafür sorgen, daß seine Geisel dieses Bild, das sich ihren Augen bot, noch einmal genoß.
Er hatte sich nicht umgezogen. Noch immer verbarg er sein Gesicht hinter dem dunkelroten, wallenden Faltenstoff. Hineingeschnitten waren nur zwei Schlitze für die Augen und einer für den Mund. Der untere Rand breitete sich auf seinen Schultern aus, zum Ende hin lief die Kapuze spitz zu, wie ein Häubchen.
Der weiße Umhang reichte bis zu den dunklen Schuhen, die zur Hälfte unter ihm hervorschaute.
Er ging einen Schritt in den Waggon hinein, während das Mädchen vor ihm zurückwich.
Mit einem heftigen Ruck rammte er die Tür zu. Marion hatte draußen noch das letzte Tageslicht schimmern sehen. Als die Tür geschlossen war, fiel die Düsternis über den Wagen.
Schluß…
Marion hörte sein leises Lachen, als er zur Seite ging und sich dabei bewegte wie ein Schatten. Bei jedem Schritt wallte die Kutte. Die dumpf klingenden Tritte wurden begleitet vom Klirren der Kettenglieder, die aneinander stießen und über den Boden schleiften.
»Hattest du gedacht, fliehen zu können? Glaubtest du, mich endlich los zu sein?«
Marion spürte die Verzweiflung, die einen dumpfen Druck um ihren Kopf legte. »Ich… ich …«, flüsterte sie.
»Rede nur, Mädchen!«
»Ja, ich dachte…«
Seine harte Stimme unterbrach sie. »Keine Ausrede, keine Ausflüchte. Es ist ja menschlich. Ich an deiner Stelle hätte auch nicht anders gehandelt. Aber das ist vorbei. Jetzt sind wir beide wieder zusammen, was ich toll finde.«
»Wo sind wir?«
»Mitten auf der Strecke.«
»Fahren wir weiter?«
»Sicher.« Er ließ sich im Schneidersitz nieder. Seine Knie beulten rechts und links den Stoff aus. »Wir werden weiterfahren, bis wir unser Ziel erreichen.«
»Wo ist das?«
»Auf einem großen Platz, einer Halde gewissermaßen!«
»Müll?«
»Ich bewundere deinen Scharfsinn.«
Sie traute sich kaum, die nächste Frage zu stellen, doch sie mußte einfach heraus. »Und was passiert dort?«
»Was geschieht schon mit einer leeren Schlange aus Güterwagen? Sie wird beladen.«
»Umweltdreck, nicht?«
»Ich weiß nur, daß sich dort einiges entscheiden wird. Außerdem möchte ich dir ein Kompliment machen. Du hast wunderbar geschrien. Richtig echt hat es geklungen. Derjenige, der den Schrei hörte, bekam Furcht. Das habe ich durch die Leitung gehört.«
»Wer war es?«
»Sinclair!«
Marion mußte erst nachdenken, bevor ihr einfiel, wer diese genannte Person war. »Der Mann, den Sie geholt haben, damit er das Lösegeld bringt und den Wagen fährt.«
»Genau.«
»Was soll er denn noch?«
»Ich habe einiges vor. Es wird sich alles im Laufe der Nacht ergeben. Die Dunkelheit bricht bald herein, dann ist meine Zeit gekommen, Mädchen.«
»Welche Zeit?« Sie war irritiert.
»Ich werde es dir zeigen – Moment.« Er griff mit der rechten Hand in einen Taschenschlitz an der Seite und holte dort etwas Weißes, Langes hervor. Es war eine Kerze. Aus dem oberen Ende ragte der Docht wie ein schmaler, dünner Finger.
Ein Feuerzeug hielt er ebenfalls in der Hand. Die Flamme sprühte aus der schmalen Düse und zitterte, als er sie dem Docht zubewegte, der gierig von dem Feuer Besitz ergriff und ein flackerndes Licht schuf. Die Flamme konnte nicht ruhig brennen. Durch die Ritzen drang zuviel Wind.
Der Maskierte ließ Talg auf den Boden tropfen und klebte die Kerze mit dem Unterteil daran fest.
Sie stand so, daß sie sein maskiertes Gesicht anleuchtete und auf dem roten Stoff ein Muster aus Schatten und dünner, rotgelber Farbe hinterließ.
Er hob beide Hände, krallte die Finger in den Stoff und zog die Kapuze langsam in die Höhe.
Marion Brookman saß vor Anspannung still. Zum erstenmal würde sie das Gesicht des Entführers sehen können. Sie hatte sich bisher noch keine Vorstellungen von seinem Aussehen gemacht. Eigentlich rechnete sie mit allem. Da konnte ein menschliches Gesicht ebenso zum Vorschein kommen wie eine verunstaltete Fratze oder das Antlitz des Teufels. Es war alles irgendwo schlimm.
Mit einem letzten Ruck zupfte er die Kapuze weg, so daß sein Gesicht frei vor ihr lag und auch vom Widerschein des Lichts erreicht wurde. Auf irgendeine Art und Weise war Marion Brookman enttäuscht. Sie hatte wirklich damit gerechnet, ein Monstrum vor sich zu haben, doch die Person besaß ein normales Gesicht.
Scharf geschnitten, mit einer leicht gebogenen Nase über dem schmallippigen Mund. Das Kinn – nicht zu breit
Weitere Kostenlose Bücher