0578 - Die Geisel
der Zug nicht durchfahren. Vielleicht die Nacht über, wenn es ein Sonderzug war, der irgendwelchen Müll abholte.
Müll?
Sie krauste die Stirn. Wie kam sie auf Müll? Auch dachte sie an die Umwelt. Müll – Umwelt – Transporte, das konnte eine gefährliche Verbindung geben.
Marion Brookman folgerte weiter. Ein einsam durch die Nacht fahrender Güterzug fiel kaum auf. Da konnte man schon heimlich etwas abtransportieren.
Aber das war das Extrem. Durchaus konnte dieser Transport ganz normal laufen. Gerade die Nächte, wo die Strecken nicht so stark befahren waren, konnten für Gütertransporte benutzt werden.
Sie war dem Blutsauger davongefahren. Wieder mußte sie auflachen. Es war ihr einfach unbegreiflich. Da hatte sich dieser Kerl eine dermaßen große Mühe gegeben, und nun fuhr sie ihm davon. Ihre Hoffnung stieg. Sie unterdrückte den Hunger, den Durst und ignorierte die Kälte. Am Ziel würde sie sich schon bemerkbar machen, das stand fest.
Noch während sie lachte, sank ihr Kopf nach vorn, und sie schaute zu Boden. Es war der perfekte Irrsinn, so etwas überhaupt zu erleben. Unmöglich, unwahrscheinlich und trotzdem Realität.
Der Zug rumpelte weiter durch die Landschaft. Marion Brookman schaute wieder durch den Spalt. Der Fahrtwind fuhr gegen ihre Pupille, sie nahm den Kopf zurück. Viel hatte sie sowieso nicht sehen können. Einen grauen Streifen, wahrscheinlich ein Bahndamm und ein Stück dahinter triste Fassade.
Rollte sie durch London?
In ihrer Angst hatte Marion nicht auf die Fahrtrichtung geachtet.
Das konnte durchaus sein, brauchte aber nicht. Es gab auch andere Bahnhöfe als die der Großstadt.
Bisher hatte sie sich an das stets gleichmäßige Rollen gewöhnt, bis zu dem Zeitpunkt, als sie feststellte, daß die Schlange der Wagen langsamer wurde.
Der Zug bremste.
Zuerst glatt, dann etwas stotternd. Die gefesselte Marion riß es um.
Auf der Seite blieb sie für einen Moment liegen. Dann schwang sie sich wieder in eine sitzende Stellung und dachte darüber nach, aus welchem. Grund der Zug gehalten hatte.
Befanden sie sich bereits am Ziel?
So recht wollte ihr das nicht in den Kopf. Nein, das hier war höchstens ein Zwischenstopp.
Ob sie es jetzt versuchte?
Stimmen hatte sie nicht gehört. Sie erinnerte sich, daß auf diesen langen Wagenschlangen früher Bremser in den kleinen Häuschen mitgefahren waren.
Ob das heute auch noch so war?
Marion Brookman wollte auf die verschlossene Schiebetür zukriechen, als sie über sich ein Geräusch hörte. Zunächst dachte sie an ein Kratzen, verursacht von einem großen Vogel, der auf dem Dach des Wagens seinen Platz gefunden hatte.
Sie blieb hocken, schielte in die Höhe, wartete darauf, daß sich das Geräusch wiederholte.
Die Spannung stieg, das Kratzen war nicht mehr zu hören, dafür etwas anderes.
Tritte!
Schwere Schritte, die Echos hinterließen und dumpf durch den Wagen schwangen.
Marions Kehle verengte sich. Auf einmal fiel ihr das Atmen schwer. Sie traute sich nicht zu rufen. Sie wußte nicht, wer sich auf dem Dach bewegte.
Einer der mitfahrenden Arbeiter vielleicht?
Durchaus möglich, es konnte sich auch um eine andere Person handeln, die für Marion der Alptraum war.
Der Kapuzenmann…
Sie horchte weiter, und sie bekam mit, daß der Unbekannte seinen Weg über das Dach fortsetzte. Er ging von einer Seite des Wagens auf die andere, und zwar der Länge nach.
Als sich die Gestalt an der Türseite befand, verstummten die Geräusche. Sie waren regelrecht eingefroren. Marion lauschte zitternd und frierend.
Durch die Nase holte sie Luft, starrte die Tür an, die sich nur schwach in dem Dämmer abzeichnete. Außen vernahm sie das Kratzen und auch die dumpfen Schläge.
Da war jemand!
Sekunden vergingen in atemloser Spannung. Wer immer es sein mochte, ob Freund oder Feind, er machte sich jedenfalls an dem Schloß und auch am Riegel zu schaffen.
Marion kannte die Geräusche genau. Sie erinnerte sich, daß es die gleichen waren, die beim Schließen der Tür entstanden.
Ein hartes Ratschen erklang. Das Schloß war offen. Jemand zog außen den schweren Riegel zurück.
Die Tür rollte zur Seite. Eine Öffnung entstand, schulterbreit und Platz für den lassend, der sich mit einer geschickten und tänzerisch anmutenden Bewegung in den Waggon schob.
Es war keiner der Arbeiter, auf die Marion Brookman ihre Hoffnung gesetzt hatte.
Es war er, der Kapuzenträger und ihr Entführer!
***
Für die Dauer einiger Sekunden blieb er
Weitere Kostenlose Bücher