058 - Der Duft von Sandelholz
davon verlor, würde sie sich das nie verzeihen.
Gleich darauf war sie dem Gedränge des Erfrischungsraums entkommen, trat an das Geländer am oberen Treppenabsatz und warf einen Blick hinunter auf die farbenprächtige Menschenmenge. Sie sah die kleine Gruppe, mit der sie eben zusammengestanden hatte, und erkannte, dass Bess sich nicht so bald würde fortschicken lassen, jetzt, da sie Edward in die Enge getrieben hatte.
Lilys Blick schweifte zu den Flügeltüren, die von dem Ballsaal auf die darunterliegende Terrasse führten. Vielleicht war dies der richtige Zeitpunkt, um hinauszuschlüpfen und den Pavillon zu besichtigen ...
In ihrem Verlangen, den mondbeschienenen Garten zu erkunden, und mit einem Anflug von Kühnheit, beschloss sie, es zu riskieren. Sie raffte die rosafarben schimmernden Röcke ein wenig und wollte die marmorne Treppe hinuntereilen, auf der sich die Gäste dicht drängten. Sie sammelte allen Mut, den sie aufbringen konnte, fest entschlossen, sich von ihren Begleitern nicht erwischen und von ihrem Vorhaben abbringen zu lassen .
Aber als sie ihren Plan realisieren wollte, hatte sich zwischen den weiblichen Gästen auf der Treppe ein Gemurmel erhoben.
„Nein, das kann unmöglich stimmen. Er hat sie dazu gebracht, vor Lust zu schreien."
„Ich hörte, die Dienstboten waren sich nicht ganz sicher, ob sie das Paar in Ruhe lassen oder den Konstabier rufen sollten, bei all den Schreien, die aus den oberen Gemächern zu vernehmen waren."
„Schreie? Nein!"
„Sie hat mir erzählt, unter ihm sei das Bett zusammengebrochen."
„Wie - lebendig."
„Er darf gern meines zusammenbrechen lassen", meinte eine andere und wandte sich dem Ballsaal zu.
„Pass auf, dass dein Gemahl dich das nicht sagen hört."
„Als würde ihn das interessieren. Er glaubt immer noch, ich wüsste nichts von seiner letzten Mätresse, der Narr."
Entsetzt schlich Lily auf Zehenspitzen an der kleinen Gruppe vorüber, bemüht, die Damen nicht merken zu lassen, dass sie ihrem indiskreten Klatsch gelauscht hatte.
Von wem nur mochten sie reden?
„Hast du von seinem Schäferstündchen mit Lady Campbell gehört?"
„Was? Nein!"
„Erzähl!"
„Die Ärmste, sie konnte wegen dieses herrlichen Wilden nicht einmal mit uns in der letzten Woche im Hyde Park ausreiten."
„Du meinst doch nicht ...?"
„Doch. Ich weiß nicht, was er mit ihr gemacht hat, aber sie konnte kaum gehen, geschweige denn an jenem Nachmittag auf ihrem Pferd sitzen."
Aufgeregtes Gelächter.
„Glaub mir, Liebes, es schien ihr nichts auszumachen."
Verblüfft von diesem sündhaften Gespräch folgte Lily der Richtung, in die die Damen blickten, nämlich hinunter in die Mitte des Ballsaals. Und als sie den Grund für all diese Aufregung sah, blieb sie abrupt auf der Treppe stehen.
Oh!
Lily legte die Fingerspitzen an den Mund und stand da, wie betört von dem gefährlich aussehenden Mann, der angekommen war. Sie starrte ihn genauso an wie alle anderen Damen es taten.
Kein Wunder, dass die Frauen denVerstand verloren hatten.
Er war - wunderschön. Von der Sonne gebräunt und schwarzhaarig, mehr als sechs Fuß groß und durchtrainiert. Seine Uniform trug er mit so viel Stolz, dass es keinen Zweifel darüber geben konnte, dass dies kein Kostüm war. Er hielt sich auch wie ein Soldat - gerade, die Brust vorgestreckt, die Schultern zurückgenommen, das markante Kinn gereckt. Und die Selbstsicherheit, mit der er sich bewegte - ein wachsames Gleiten -, schien darauf hinzudeuten, dass er in mehr als nur einer Hinsicht ein Eroberer war.
„Wer ist das, Mary?", fragte eine Frau ihre Freundin.
Nachdem sie wie in Trance die Treppe ein paar Stufen hinuntergegangen wrar, hörte Lily das aufgeregte Gespräch einer anderen Gruppe von Frauen mit.
„Wie denn, Liebes, das weißt du nicht? Er ist doch der Hengst dieser Saison."
Kichern folgte auf diese Bemerkung, hell und mädchenhaft.
„Pst! Willst du, dass alle dich hören?"
„Es ist Major Derek Knight", verriet die erste Frau zufrieden.
„Cousin des Duke of Hawkscliffe, soeben aus Indien eingetroffen."
Indien? Jetzt war Lilys Aufmerksamkeit erst recht erregt. Von diesem verfluchten Land, das ihr den Vater genommen hatte?
„Ach, die Knights, natürlich."
„Himmel, die! Ja, nun, da du es gesagt hast, sehe ich die Ähnlichkeit. Sind es nicht zwei Brüder?"
„Ja, er ist der jüngere. Der ältere zeigt sich nie in der Gesellschaft. Ich habe gehört, dass sie beide vollkommen furchtlos sind und in zahllosen
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