0581 - Der Blutstein
oder nicht, konnte ich nicht feststellen. Er hielt den Toten noch fest, drehte den Kopf und sah mich herankommen.
»Du bist es, John!«
Er sprach so völlig normal, als würde er einen alten Bekannten begrüßen.
»Ja, ich. Hast du jemand anderen erwartet?«
»Wen denn?«
»Gina.« Ich blieb neben ihm stehen.
Er hob nur die Schultern und sah, wie ich mit dem Zeigefinger auf den Toten wies. »Was hast du mit ihm vor?«
»Ich muß ihn in den Schacht werfen.«
»Ach – wer hat dir das denn gesagt?«
»Meine Mutter, John!«
Es gab mir schon einen Stich, daß er noch immer von seiner Mutter sprach. Die Hexe Gina oder ihr Geist mußte einen gewaltigen Einfluß auf ihn besitzen. Wahrscheinlich war er bei seinen Ziehoder Adoptiveltern nicht glücklich gewesen. Die Sehnsucht nach der echten Mutter mußte tief in ihm gesteckt haben, aus diesem Grunde auch hatte es Gina so verdammt leicht mit ihm gehabt.
»Und dann?« fragte ich.
Er nickte in Richtung Schacht. »Da muß er hin, dort sind auch die anderen.«
Ich wollte ihm nicht so recht glauben. Um in den Schacht sehen zu können, mußte ich näher an ihn heran und beging dabei nicht den Fehler, mich direkt neben den Jungen zu stellen. Der brachte es fertig und kippte mich hinein.
Ich umschritt die Öffnung und schaute von der gegenüberliegenden Seite hinein.
Viel war nicht zu sehen. Eine tiefe Dunkelheit, die allerdings am Grund des Schachts etwas aufgehellt wurde, denn dort sah ich ein schwaches, rotes Leuchten.
Noch war es nur eine Ahnung, die jedoch bald zu einer Gewißheit werden sollte.
Ich zog die Bleistiftleuchte hervor. Ihr Strahl würde wahrscheinlich ausreichen, den Grund des Schachts auszuleuchten. Er huschte an den Innenwänden entlang in die Tiefe – und fand sein Ziel.
Steigeisen führten an meiner Seite in die Tiefe. Sie endeten dicht über dem Grund, wo das Licht meiner Lampe von bleichen Gegenständen eingefangen und reflektiert wurde.
Zuerst konnte ich damit nicht viel anfangen, bis mir bewußt wurde, daß es sich um Knochen handelte.
Gebeine…
Aber noch etwas entdeckte ich. Der Gegenstand lag zwischen den bleichen Gebeinen verteilt und bildete für mich so etwas wie einen makabren Mittelpunkt.
Er besaß ungefähr die Größe einer Hand und schimmerte in einem satten, dunklen, blutigen Rot.
Er lag dort wie ein großes Ei, das war er bestimmt nicht. Mir war bewußt, daß ich es endlich geschafft hatte und mich kurz vor dem Ziel meiner Wünsche befand.
Ich hatte den Blutstein gefunden!
***
Dennis sagte nichts. Unbeweglich stand er neben dem Toten und starrte emotionslos in die Tiefe, die von meiner Lampe ausgeleuchtet wurde.
»Du hast es gewußt, Dennis«, sprach ich ihn an und sah, wie er als Antwort nickte.
»Und du hast mir nichts gesagt.«
»Nein!«
»Weshalb nicht?«
Er hob die Schultern. Sein Gesicht war schlecht zu erkennen, es war einfach zu dunkel. Die Stirn legte er in Falten. Auf mich wirkte er so, als würde er mit sich selbst kämpfen.
»Warum nicht, Dennis?«
»Der Tote muß in den Schacht!« flüsterte er.
»Wo auch die anderen gelegen haben, von denen nur die Gebeine zu sehen sind?«
»Ja.«
»Und weiter? Was geschieht?«
»Der Stein braucht sie.«
»Hat er das Blut nicht schon bekommen?«
Der Junge nickte. »Das hat er, aber er mußte verschwinden. Er mußte einfach weg, verstehst du? Er darf nicht gefunden werden, John.«
Ich schaute Dennis direkt an. »Wer bist du, Junge? Bist du noch der Dennis, den ich kenne, oder lebt etwas anderes in dir? Sag es! Raus mit der Sprache!«
»Es ist noch was anderes. Ich bin Mario. Meine Mutter ist eine Hexe gewesen.«
»Wo befindet sie sich?«
»Ich weiß es nicht. Ich spüre sie. Du hast sie vertrieben, glaube ich. Aber sie ist noch da.«
Ich nickte ihm über die Öffnung hinweg zu. »Gut, Dennis, belassen wir es dabei. Ich mache dir einen Vorschlag, Junge. Ich werde jetzt in den Schacht steigen und den Blutstein holen.«
Der Junge bekam einen gläsernen Blick. »Was willst du machen?« hauchte er.
»Ich brauche den Stein. Nur seinetwegen bin ich in diese Gegend gekommen. Ich brauche ihn, um einer Person, die mir sehr nahe steht, das Leben zu retten. Es ist meine Mutter, Dennis. Ich hänge an meiner Mutter ebenso wie du an deiner. Kannst du das begreifen?«
»Nein, ja… aber das hier ist etwas anderes. Deine Mutter war oder ist auch eine Hexe?«
»Nein. Sie wird gefangengehalten. Um sie zu befreien, muß ich den Blutstein haben.«
»Dann willst du ihn
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