0593 - Das Zeichen
vollenden zu können.«
»Welches Werk?«
Ihre Augen wurden plötzlich groß. »Ich wollte ihn doch unsterblich machen, das habe ich dir gesagt. Er sollte dies auf eine gewisse Art und Weise werden. Vom Menschen zum Engel.« Sie schlug gegen ihre Stirn. »Kannst du dir so etwas vorstellen, Rabbi?«
»Noch immer nicht.«
»Ich habe es geschafft. Dazu brauchte ich nur einen Helfer, und den hast du angeschleppt. Sinclair kam, er sollte sich um den Kranken kümmern. Damit warst du voll und ganz einverstanden. Er war das letzte Glied in der Kette. Ihr habt sie geschlossen. Als Sinclair ihn mit seinem Kreuz berührte, das auch von den Erzengeln gezeichnet worden war, da war Nathan bereits infiziert. Ich habe ihn in langen Stunden beschworen. Bis tief in die Nacht saß ich an seinem Bett und las ihm aus den Büchern der Kabbala vor. Die alte Mystik, Rabbi, verstehst du das?«
»Ich weiß.«
»Und dieses Grab hier wurde für mich zur Zentrale. Das Licht hinter mir ist eine andere Welt. Es ist die Welt der Engel, die Zone, in der sie sich aufhalten…«
»Nein, niemals, Sarah. Die Welt der Engel ist rein, sündenlos. Ich habe die Gesichter der Mädchen gesehen. Sie zeigten eine schreckliche Qual. Man hat sie mit dem Grauen konfrontiert. Das kann nicht die Welt der Engel sein, nicht das Paradies, von dem so oft gesprochen und auch geschrieben wird. Du, Sarah, mußt dich geirrt haben, du hast dich auch geirrt, und du hast es nicht geschafft, alles in die Bahnen zu lenken, die du dir vorstelltest. Es ist dir mißlungen, Sarah.« Der Rabbi ließ sich nicht beirren, auch dann nicht, als Sarah eine Gegenantwort geben wollte. »Du kannst nicht mehr zurück. Ich gebe zu, daß Nathan das Zeichen besitzt, aber er ist nicht zu einem Engel geworden.«
»Und seine Seele?« fragte sie, »hat sie nicht den Körper verlassen. Du mußt sie doch gesehen haben…«
»Das habe ich.«
»Dann ist er doch ein Engel.«
»Nein, Sarah, ich glaube dir nicht. Daß du ihn beschworen hast, weiß ich, doch du besitzt nicht den heißen Draht zum Paradies. Du bist ein schlechter Mensch, der von den himmlischen Kräften einfach nicht akzeptiert werden kann. Du hast nicht nur andere getäuscht, dich selbst ebenfalls, Sarah. Es ist dir mißlungen, nur willst und kannst du es nicht zugeben, was ich auch verstehe.«
»Sei nur nicht zu überheblich.«
»Das bin ich nicht. Ich werde nur eines tun, Sarah. Ich werde dich dorthin bringen, wo du hingehörst.«
»Und das wäre?«
»Zur Polizei, ins Gefängnis. Du gehörst vor Gericht gestellt, denn du bist eine vierfache Mörderin.«
Sie lachte laut. »Glaubst du im Ernst, daß dir das einer abnehmen wird, Rabbi?«
»Du hast es selbst zugegeben.«
Sie winkte ab. »Das zählt nicht. Es steht Aussage gegen Aussage. Außerdem würde ich alles abstreiten, Rabbi. Du hast die schlechteren Karten, glaube es mir.«
Der Rabbi überlegte. Im Prinzip hatte Sarah recht. Er konnte nichts tun, vor Gericht mußte er Beweise vorlegen. Wut überkam ihn, eine fürchterliche Wut, aber er beherrschte sich und schaute an ihr vorbei zum Fenster.
»Möchtest du hin?« fragte Sarah. »Willst du dem Jenseits einen Besuch abstatten?«
»Warum nicht?«
»Dann mußt du bereit sein, deine Seele zu opfern, Rabbi. Wenn du sie hergibst, kannst du deinem Sohn folgen, so einfach ist das.«
»Wie soll ich es machen?«
»Ich habe lange gebraucht, um Nathan vorzubereiten. Bei dir schaffe ich es nicht auf diese Art und Weise. Außerdem muß es schnell gehen.« Sie drehte sich und streckte den Arm aus. Dabei wies sie auf das Licht. »Da, geh hinein.«
Der Rabbi überlegte. »Einfach so?«
»Natürlich, einfach so. Vielleicht nimmt dich das Jenseits auch als Mensch an. Du verfolgst lautere Motive. Es geht dir um deinen Sohn, den du zurückholen willst.«
»Und damit hast du gewonnen, nicht wahr?« fragte er.
Sie lächelte kalt. »Habe ich das nicht schon jetzt? Ich bin die Siegerin in diesem Spiel, mein Freund, das weißt du doch. Stoppen kannst du nichts mehr, ich habe die Kabbala sehr genau gelesen. Ihre Mystik ist wunderbar. Ich konnte eine Welt aufbauen, ich konnte hineinschauen in andere Reiche. Es hat mir sehr viel gegeben, glaub mir. Geh und hole deinen Sohn zurück, Rabbi.«
Jehuda überlegte. Was hatte er zu verlieren? Nichts mehr, wenn er die Gemeinde mal außen vorließ. Er war derjenige, der nun an sich und seinen Sohn denken mußte. Er würde als geläuterte Person in das Licht hineinschreiten und nicht mit dem Bösen
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