0593 - Das Zeichen
Der Rabbi war ein Gefühlsmensch, nicht unbedingt sensitiv veranlagt, nur hatte er es gelernt, auf die innere Stimme zu hören.
Er strich durch seinen feucht gewordenen Bart. Dabei entdeckte er, daß jemand das Gittertor der Grabstätte aufgeschlossen hatte. Man hatte es also geschändet.
Er ballte die Hände zu Fäusten. Grabschändung gehörte zu den schlimmsten Vergehen, die er sich vorstellen konnte. Dieser Gedanke ließ ihn das letzte innere Hindernis überwinden.
So rasch wie möglich ging er vor, in den Aufbau des Grabs hinein – und mußte abrupt stehenbleiben, um nicht über den Rand der Luke hinweg auf die Treppe zu fallen und in die Tiefe zu kippen.
Allein stand er außerhalb, aber im Innern, da hielten sich Personen auf, er vernahm es am Flüstern der Stimme. Der Rabbi beugte sich etwas vor. Ob auf seinem Gesicht der Angstschweiß lag oder nur Feuchtigkeit, konnte er nicht sagen. Wahrscheinlich vermischte sich beides miteinander.
Für einen Moment schloß er die Augen, als er die Frauenstimme erkannte. Ja, das war Sarah. Die Frau, die der Familie jahrelang treu und brav zur Seite gestanden hatte. Wie konnte man sich in einem Menschen nur dermaßen täuschen?
Er mußte, um etwas erkennen zu können, zumindest auf die zweitletzte Stufe gelangen. Sehr behutsam ging er vor, erreichte das avisierte Ziel und blieb dort geduckt stehen.
Jetzt konnte er auch verstehen, was unten in der Gruftkammer gesprochen wurde.
Die Worte allerdings jagten ihm nicht nur einen Schauder der Angst über den Rücken, sie ließen ihn auch an seinem eigenen Verstand zweifeln…
***
Sarahs Stimme drang an seine Ohren, als käme sie aus einer anderen Welt. »Sie sollten dich nicht stören, Söhnchen, nicht beeinflussen, nein, das sollten sie nicht. Du bist für etwas ganz anderes vorgesehen, denn du bist ein Auserwählter.«
Nathan faßte es nicht. Die Worte rannen an ihm vorbei, er sah nur die Gesichter innerhalb des Lichtscheins. Er entdeckte keine Freude darin, keine Entspannung, nur eine furchtbare Qual, als hätte man sie aus einer höllischen Welt freigelassen und nicht aus dem Reich, das nach dem Tod eines Menschen Erlösung bot.
Er wollte Sarah nicht mehr glauben. Das war nicht das Jenseits, in das er schaute, es mußte eine andere Welt sein, eine furchtbare und schreckliche.
Hinzu kam die Tatsache, daß die drei Mädchen getötet worden waren. Darüber kam er nicht hinweg, das war einfach furchtbar. Getötet von einer Frau, die auch nach den Morden im Haus gewohnt hatte und oft nicht von seiner Seite gewichen war wie ein böser Schutzengel.
Er schaute auf seinen Handballen, wo das M noch immer in einem blutigen Rot leuchtete. Es stand im harten Gegensatz zum hellen Schein hinter dem Fenster.
Wenn es nicht das Jenseits war, was verbarg sich dann dort? Nathan wollte fragen, traute sich noch nicht, weil sich seine Gedanken um die Toten drehten.
»Ihre Gesichter habe ich gesehen«, sagte er flüsternd. »Aber wo befinden sich die Körper? Du hast sie umgebracht, Sarah, was tatest du mit den Leichen?«
Er hörte ihr Kichern. Es gefiel ihm nicht, und er bekam eine Gänsehaut. »Weißt du nicht, wo wir hier stehen, Söhnchen? Auf einem Friedhof. Welcher Ort ist besser für Tote geeignet als ein Friedhof? Ich kenne zumindest keinen.«
»Dann hast du sie hier verschwinden lassen?«
»Das ist richtig.«
Er wischte über seine schweißfeuchte Gesichtshaut. »Es ist Wahnsinn«, hauchte er, »ich… ich packe es einfach nicht. Das ist verrückt, ich kann nicht mehr.«
Sarah war anderer Meinung. »Du solltest dich darum nicht kümmern, Söhnchen. Diese Gruft ist für dich nicht mehr als eine Zwischenstation. Du bist nicht mehr der Nathan, der du zuvor einmal gewesen bist. Man hat aus dir einen anderen gemacht. Du bist ein Freund der Engel, sein Zeichen brennt auf deiner Haut, Söhnchen. Du wirst die Dinge von nun an anders sehen.«
»Was für…?«
»Geh, Söhnchen, geh auf das Licht zu, wo sich deine Freundinnen aufhalten. Hinein mit dir in das Licht! Du wolltest doch zu ihnen. Jetzt kannst du sie besuchen.«
»Nein, ich will nicht!«
»Du mußt aber.« Sie unterstrich ihre Worte durch eine Aktion.
Blitzschnell rammte sie die flachen Hände gegen den Rücken des Nathan Jehuda.
Der war so überrascht gewesen, daß es ihm nicht gelang, einen Gegendruck aufzubauen. Er fiel nach vorn. Um nicht zu fallen, mußte er die Beine bewegen.
Es kam, wie es kommen mußte. Er stolperte auf das Licht zu, das Tor zum Jenseits
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