0593 - Das Zeichen
Hort der Ruhe, wo der Mensch mit seinen Gedanken allein war und wo er philosophieren und beten konnte.
An diesem Abend sah er den Friedhof mit anderen Augen an. Da war er für ihn ein Areal des Schreckens, ein Tummelplatz geisterhafter Gestalten, wo die in der Erde liegenden Toten versuchten, die Botschaften aus dem Jenseits abzugeben.
Ein kaltes Gefühl kroch über seinen Nacken. Angst verspürte er nicht, es war allein die Beklemmung, die ihn so zögerlich handeln ließ. Er hatte das Gefühl, etwas Bestimmtes, das bisher sein Leben geprägt hatte, zurücklassen zu müssen, ohne dabei zu wissen, ob es für ihn überhaupt noch eine Zukunft gab.
Wo verbarg sich die geheimnisvolle Seele seines Sohnes? Sie konnte zwischen den Schwaden untertauchen, ohne je von ihm entdeckt zu werden. Die Nebel bewegten sich sehr langsam, der Geist möglicherweise schneller.
Büsche säumten den schmalen Pfad, der vor dem kleinen Friedhofstor endete.
Er blieb stehen und schaute darüber hinweg. Die Grabsteine machten einen traurigen Eindruck. Es war noch nicht ganz dunkel geworden, im Dämmerlicht wirkten sie doppelt so groß wie normal. Zwischen ihnen wallten die feuchten Tücher und schienen sie miteinander zu verbinden, was den Eindruck des Unheimlichen noch verstärkte. Das Knarren des Tores paßte genau in die Stimmung hinein.
Noch ging er nicht. Der Rabbi schaute sich um. Obwohl er tagtäglich den alten Friedhof durchschritt, hatte er jetzt das Gefühl, vor fremdem Gelände zu stehen.
Seine Stirn zeigte ein Muster aus Falten, im Hals spürte er einen Geschmack nach Galle, schluckte ihn herunter, dann erst traute er sich, das Gelände zu betreten.
Seine Schritte waren kaum zu hören, die Füße versanken im weichen, feuchten Gras, in dem hin und wieder ein versteckter Stein gegen die Sohlen drückte.
Den Geist sah er nicht. Er würde irgendwo vor ihm lautlos durch den Nebel schwingen, und der Rabbi fragte sich, wo ihn der Geist hatte hinführen wollen.
Es gab zahlreiche Gräber auf dem Gelände. Die meisten Bestatteten waren dem Rabbi namentlich bekannt, mit vielen hatte er sich auch unterhalten.
Er schaute nach rechts.
Wehte dort nicht ein helleres Etwas durch die Düsternis? Das konnte durchaus sein, und er schlug auch die Richtung ein. Er trat auf Gräber, was er sonst immer vermieden hatte, stützte sich an den Rändern der Steine ab, spürte oft genug das Moos unter seinen Händen, und auch die Glätte des regennassen Bodens blieb.
Der Friedhof war nicht groß. Er kam sich trotzdem vor, als würde er sich kaum von der Stelle bewegen. Irgendwann begann die Umgebung zu leben. Er hörte zwar nichts, aber die Grabsteine setzten zu einem leichten Tanz an und wehten in die Schleier hinein, die sie umgaben. Ein verspielter Reigen aus Dunstschwaden hüllte alles ein. Er besaß eine ähnliche Farbe, wie der immer dunkler werdende Himmel.
Der sehr kühle Hauch strich über Jehudas Nacken. Da wußte er, daß die Seele seines Sohnes dicht bei ihm war. Er drehte sich auf der Stelle um und sah ihn noch davonhuschen, weil er sich schneller bewegte als die Dunsttücher.
Sein Ziel war die Grabstätte, die alle anderen überragte. Man bezeichnete sie hin und wieder als kleines Mausoleum. In ihr wurden diejenigen begraben, die den Titel des Rabbis trugen.
Eine ehrfurchtgebietende Totenstätte, vor der Jehuda oft im Gebet verweilt hatte.
Diesmal spürte er Unbehagen und Furcht, als er sich der Grabstätte näherte. Ihm war schon jetzt klar, daß er sie nicht mehr so vorfinden würde, wie er sie zuletzt gesehen hatte.
Irgend etwas mußte dort geschehen sein…
Seine Sohlen knickten das Gras. Die Feuchtigkeit hatte Nässe auf seine Schuhe gelegt. Bei jedem Schritt quietschte das Leder. Lautlos konnte er sich nicht nähern.
Doch wen würde es stören? Bestimmt nicht die Toten, die ihre ewige Ruhe gefunden hatten.
Die Geistergestalt entdeckte er nicht mehr. Dafür schob sich etwas aus den Schwaden hervor, das auf dem Totenacker wie ein kleiner Turm wirkte. Es waren die Umrisse der Grabstätte.
Wartete die wandernde Seele dort auf ihn? Als wäre er selbst ein Dieb, der den Friedhof schänden wollte, so schob sich der Rabbi näher an das Ziel heran.
Er konnte es nicht genau sagen, aber er glaubte, Stimmen gehört zu haben.
Vor der Grabstätte blieb er trotz dem Nebel in einer relativ sicheren Entfernung stehen.
Daß sich hier etwas zusammengebraut hatte, merkte er mit einem sicheren Instinkt für außergewöhnliche Vorgänge.
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