06 - Denn keiner ist ohne Schuld
erklärend. »Eigentlich sollte meine Tochter sie falten. Aber sie hat es wieder mal vergessen. So geht's einem mit den Töchtern.«
»Ich glaube, wir haben sie gerade kennengelernt«, sagte St. James. »Auf dem Parkplatz.«
»Ja, sie hat uns erwartet«, steuerte Deborah bei. »Sie hat uns die Sachen hereingetragen.«
»Ach, wirklich?«
Der Blick der Frau wanderte zu ihrem Koffer. »Sie müssen Mr. und Mrs. St. James sein. Herzlich willkommen. Wir haben Ihnen Himmelsblick gegeben.«
»Himmelsblick?«
»Das Zimmer. Es ist unser schönstes. Um diese Jahreszeit nur leider ein bißchen kalt. Aber wir haben Ihnen einen extra Heizofen hineingestellt.«
Kalt war milde ausgedrückt für die Temperatur in dem Zimmer, in das die Frau sie führte, im zweiten Stock, direkt unter dem Dach. Der elektrische Ofen lief zwar auf Hochtouren und sandte spürbare Wärmequellen aus, aber die drei Fenster und die beiden zusätzlichen Oberlichter wirkten wie Kältespender. Man brauchte nur bis auf einen halben Meter an sie heranzugehen, um den eisigen Zug zu spüren.
Mrs. Wragg zog die Vorhänge zu. »Abendessen gibt es von halb acht bis um neun. Haben Sie vorher irgendeinen Wunsch? Haben Sie schon Tee getrunken? Josie kann Ihnen gern eine Kanne heraufbringen, wenn Sie möchten.«
»Für mich nicht, danke«, sagte St. James. »Und du, Deborah?«
»Nein, danke.«
Mrs. Wragg nickte. Sie rieb sich mit den Händen die Oberarme. »Gut«, sagte sie und bückte sich, um einen langen weißen Faden vom Teppich aufzuheben. Sie wand ihn um ihren Finger. »Das Bad ist da durch die Tür. Aber seien Sie vorsichtig. Die Tür ist ein bißchen niedrig. Sind sie übrigens alle. Das ist eben so in einem alten Haus. Sie kennen so was ja.«
»Ja, natürlich.«
Sie ging zu der Kommode zwischen den beiden vordersten Fenstern und rückte den Ankleidespiegel zurecht, zupfte an dem Spitzendeckchen, das darunter lag. Sie öffnete den Kleiderschrank und sagte: »Hier haben Sie zusätzliche Decken, wenn Sie welche brauchen«, und sie klopfte auf die Chintzpolsterung des einzigen Sessels im Zimmer. Als es beim besten Willen nichts mehr zu zeigen oder zu tun gab, sagte sie: »Sie kommen aus London, nicht?«
»Ja«, antwortete St. James.
»Wir haben hier nicht oft Leute aus London.«
»Es ist ja auch ziemlich weit.«
»Nein. Das ist es nicht. Die Londoner zieht's alle nach Süden. Dorset oder Cornwall. Da fahren die alle hin.«
Sie trat an die Wand hinter dem Sessel und machte sich an einem der beiden Drucke zu schaffen, die dort hingen, eine Reproduktion von Renoirs Zwei Mädchen am Klavier in weißem Passepartout, das an den Rändern vergilbt war. »Die meisten Leute mögen die Kälte nicht«, bemerkte sie.
»Ja, das ist wahr.«
»Und die Leute aus dem Norden ziehen auch gern nach London. Aber die machen sich meiner Ansicht nach nur Illusionen. Wie Josie. Hat sie - es würde mich interessieren, hat sie sich bei Ihnen nach London erkundigt?«
Simon sah seine Frau an. Deborah hatte den Koffer aufs Bett gelegt und geöffnet. Bei der Frage hielt sie im Auspacken inne und richtete sich auf, einen feinen grauen Schal in den Händen.
»Nein«, sagte sie. »Sie hat nicht nach London gefragt.«
Mrs. Wragg nickte, lächelte dann flüchtig. »Na, das ist ein Trost. Sie wäre nämlich wirklich zu jeder Dummheit bereit, nur um aus Winslough wegzukommen.«
Sie rieb sich die Hände, faltete sie auf dem Bauch und sagte: »Gut dann. Sie wollen frische Luft und lange Spaziergänge. Wir können beides bieten. Im Hochmoor. Auf den Feldern. Über die Hügel. Im letzten Monat hatten wir Schnee - seit einer Ewigkeit das erste Mal, daß es hier in der Gegend geschneit hat -, aber jetzt haben wir nur Reif. Da wird's tagsüber matschig, aber Sie haben sicher Gummistiefel dabei, oder?«
»Ja.«
»Gut. Wenn Sie wandern wollen, fragen Sie nur Ben - das ist mein Mann -, der kennt sich hier aus wie kein anderer.«
»Danke«, sagte Deborah. »Das werden wir tun. Wir freuen uns aufs Wandern. Und auf einen Besuch beim Pfarrer.«
»Beim Pfarrer?«
»Ja.«
Mrs. Wraggs rechte Hand glitt von der Taille zum Kragen ihrer Bluse hinauf.
»Was ist denn?« fragte Deborah. Sie und Simon tauschten einen Blick. »Mr. Sage ist doch noch hier an der Kirche?«
»Nein. Er ist...«
Mrs. Wragg drückte ihre Finger fest an ihren Hals und sagte hastig: »Er hat's wie alle anderen gemacht. Er ist nach Cornwall gegangen. Könnte man sagen.«
»Wieso?« fragte St. James.
»Da...«, sie
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