06 - Denn keiner ist ohne Schuld
wie die Dämmerung. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Diese Zeit gehört uns beiden. Laß mich nicht alles verpatzen.«
Aber sie sah ihn nicht an. Immer häufiger geschah es, daß sie ihm in Momenten der Spannung nicht in die Augen sah. Es war, als glaubte sie, sie räumte ihm sonst Vorteile ein, die sie ihm nicht gönnen wollte; und dabei hatte er den Eindruck, alle Vorteile seien auf ihrer Seite.
Er ließ den Moment verstreichen. Er berührte ihr Haar. Er legte seine Hand auf ihren Schenkel. Sie fuhr weiter.
Vom Schild der Wahrsagerin bis zu dem kleinen Dorf Winslough, das sich einen Hügel hinaufzog, waren es gut anderthalb Kilometer. Zuerst kamen sie an der Kirche vorbei - einem normannischen Bau mit Festungsturm und einer Uhr mit blauem Zifferblatt, auf der es für immer und ewig drei Uhr zwanzig war -, dann an der Grundschule, dann an einer Zeile Reihenhäuser, die am Rand eines freien Felds standen. Auf dem Gipfel des Hügels, an einer Kreuzung, an der die Straße nach Clitheroe mit den West-Ost-Verbindungsstraßen nach Lancaster und Yorkshire zusammentraf, stand das Crofters Inn.
An der Kreuzung hielt Deborah an. Sie wischte über die Windschutzscheibe, musterte mit zusammengekniffenen Augen das Haus und seufzte. »Hm, weltbewegend ist es nicht gerade, wie? Ich dachte - ich hatte gehofft... In der Broschüre klang es so romantisch.«
»Es ist doch ganz in Ordnung.«
»Es stammt aus dem vierzehnten Jahrhundert. Es hat einen großen Saal, wo früher das Gericht getagt hat. Der Speisesaal hat eine alte Balkendecke, und in der Bar ist seit zweihundert Jahren alles unverändert geblieben. In der Broschüre stand sogar, daß.«
»Es ist völlig in Ordnung.«
»Aber ich wollte doch, daß es...«
»Deborah!«
Endlich sah sie ihn an. »Wir sind doch nicht des Hotels wegen hergekommen, nicht wahr?«
Sie sah wieder zu dem alten Haus hinüber. Trotz seiner Worte sah sie es durch das Objektiv ihrer Kamera und taxierte genau jedes Element der Gesamtkonzeption: wie das Haus auf seinem Zipfel Land stand, wie es im Verhältnis zum übrigen Dorf stand, wie es gebaut war. Es war eine Betrachtungsweise, die für sie so selbstverständlich geworden war wie das Atmen.
»Nein«, sagte sie schließlich, wenn auch mit Widerstreben. »Nein. Wegen des Hotels sind wir wohl nicht hier.«
Sie fuhr durch das Tor auf der Westseite des Gasthauses und hielt auf dem Parkplatz hinter dem Haus an. Wie alle anderen Gebäude des Dorfes war das Haus aus dem hellen erdfarbenen Kalkstein der Gegend und Kohlensandstein erbaut. Nicht einmal von hinten hatte es, abgesehen von den weißgestrichenen Holzarbeiten und den grünen Blumenkästen, die schon mit überwinternden Stiefmütterchen bepflanzt waren, irgendwelche besonderen Merkmale oder Zierden aufzuweisen. Das Auffallendste war ein gefährlich nach innen gesenktes Schieferdach, bei dessen Anblick Simon inbrünstig hoffte, ihr Zimmer würde sich nicht gerade unter der Mulde befinden.
»Tja«, meinte Deborah mit einer gewissen Resignation.
Simon neigte sich zu ihr, drehte leicht den Kopf und küßte sie. »Habe ich dir eigentlich gesagt, daß ich schon seit Jahren mal nach Lancashire wollte?«
Darauf lächelte sie. »In deinen Träumen«, antwortete sie und stieg aus.
Als er die Tür öffnete, hatte er das Gefühl, die kalte, feuchte Luft schwappte ihm wie Wasser entgegen. Er nahm Holzrauch war und den morastigen Geruch nasser Erde und verfaulenden Laubs. Er hob sein krankes Bein aus dem Wagen und ließ es auf die Pflastersteine niederfallen. Es lag kein Schnee, aber Rauhreif überzog den Rasen des Wirtsgartens, der jetzt leer und verlassen war. Er konnte ihn sich im Sommer vorstellen, wenn hier die Urlauber saßen, die zum Wandern und zum Angeln hergekommen waren. Simon konnte den nahen Fluß hören, aber nicht sehen. Ein Weg führte zu ihm hin - den konnte er sehen, da die vereisten Steinplatten im Licht der Hofbeleuchtung glitzerten -, und obwohl der Fluß ganz offensichtlich nicht zum Grund des Gasthauses gehörte, war in die Grenzmauer eine Pforte eingelassen, durch die man ihn bequem erreichen konnte. Die Pforte stand offen, und noch während er dort hinübersah, rannte ein junges Mädchen durch das offene Tor und stopfte im Laufen eine weiße Plastiktüte in ihren übergroßen Anorak. Der Anorak war grell orangefarben und hing dem Mädchen, das recht hoch aufgeschossen war, bis zu den Knien. Darunter kamen dünne Beine zum Vorschein, die in großen, schlammverschmierten
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