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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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tatsächlich zuhörte, das Anliegen prüfte, sich den langen weißen Bart strich, ein nachdenkliches Gesicht machte, hm, ja, ich verstehe, sagte und einem seinen Traum erfüllte.
    Lauter Quatsch.
    Polly ging in südlicher Richtung aus dem Dorf hinaus, folgte der Straße nach Clitheroe. Der Pfad am Straßenrand war schlammig und mit welkem Laub bedeckt. Sie hörte, lauter als das Ächzen des Windes in den Bäumen, das Schmatzen ihrer Schritte im Matsch.
    Die Kirche drüben auf der anderen Straßenseite war dunkel. Solange kein neuer Pfarrer da war, mußte der Abendgottesdienst ausfallen. Der Kirchenrat war seit zwei Wochen mit Bewerbern im Gespräch, aber es schien nicht viele Geistliche zu geben, die das Landleben schätzten. Keine grellen Lichter, keine große Stadt, das schien für sie zu heißen, daß es keine Seelen zu retten gab. In Winslough gab es aber für Heil und Erlösung Aufgaben genug. Mr. Sage hatte das schnell erkannt, besonders - und vielleicht am deutlichsten - in Pollys Fall.
    Denn sie war eine langjährige, tief gefallene Sünderin. Nackt in der Kälte des Winters, in den milden Nächten des Sommers, im Frühjahr und im Herbst hatte sie den Kreis gezogen. Sie hatte den Altar nach Norden gerichtet. Sie hatte die Kerzen an den vier Toren des Kreises aufgestellt, und mit Wasser, Salz und Kräutern hatte sie einen heiligen magischen Kosmos erschaffen, von dem aus sie beten konnte. Die vier Elemente waren gegenwärtig: Wasser, Luft, Feuer, Erde. Der Strick lag um ihren Oberschenkel. Der Stab lag fest und sicher in ihrer Hand. Zum Feuermachen nahm sie Lorbeersalz und verbrannte Gewürznelken und gab sich - mit Leib und Seele, erklärte sie - dem Kult der Sonne hin. Für Gesundheit und Lebenskraft. Betete um Hoffnung, wo es den Ärzten zufolge keine mehr gab. Flehte um Heilung, obwohl die Ärzte nichts mehr versprechen konnten als Morphium gegen die Schmerzen, bis endlich der Tod der Qual ein Ende bereitete.
    Von den Kerzenflammen und dem Schein des brennenden Lorbeers umstrahlt, hatte sie singend ihre Bitte an jene vorgetragen, die sie in tiefem Ernst angerufen hatte:
    Gott und Göttin, erhört meine Lieder,
    Gebt Annie die Gesundheit wieder.
    Und sie hatte sich eingeredet - sich vorgemacht -, alle ihre Absichten seien rein und edel. Sie betete für Annie, die Freundin aus der Kindheit, Annie Shepherd, Colins Frau.
    Aber nur die Unbefleckten konnten die Göttin anrufen und erwarten, erhört zu werden. Der Zauber der Bittsteller mußte rein sein.
    Einem plötzlichen Impuls folgend, ging Polly zur Kirche und trat auf den Friedhof. Er war so schwarz wie der Schlund des Gehörnten Gottes, aber sie brauchte kein Licht, um ihren Weg zu finden. Und sie brauchte auch keines, um die Inschrift auf dem Stein zu lesen. Annie Alice Shepherd. Und darunter die Daten und die Worte Geliebte Ehefrau. Nicht mehr, nichts Auffallendes, denn Extravaganz war nicht Colins Art.
    »Ach, Annie«, sagte Polly zu dem Stein, der in dem tiefen Schatten eines Kastanienbaumes dicht bei der Friedhofsmauer stand. »Dreifach hat es mich heimgesucht, genau wie es im Buch vorausgesagt war. Aber ich schwöre dir, Annie, ich wollte dir nie etwas Böses.«
    Doch die Zweifel bedrängten sie, noch während sie schwor. Wie eine Heuschreckenplage fielen sie über sie her und legten ihr Gewissen bloß. Sie zeigten das Schlimmste, was sie gewesen war, eine Frau, die den Ehemann einer anderen für sich selbst begehrte.
    »Sie haben getan, was Sie konnten, Polly«, hatte Mr. Sage gesagt und ihre Hand mit seiner großen bedeckt. »Niemand kann Krebs durch Gebete heilen. Man kann darum beten, daß die Ärzte die Weisheit und das Wissen besitzen, um helfen zu können. Oder daß der Patient die Kraft entfaltet, um auszuhalten. Oder daß die Angehörigen lernen, mit dem Schmerz umzugehen. Aber die Krankheit selbst. nein, meine liebe Polly, die kann man nicht einfach wegbeten.«
    Der Pfarrer hatte es gut gemeint, aber er hatte sie im Grunde nicht gekannt. Er war nicht der Typ, der ihre Sünden verstehen konnte. Für das, was sie sich im finstersten Teil ihres Herzens gewünscht hatte, gab es keine Absolution, kein Gehe hin in Frieden.
    Jetzt bezahlte sie dreifach dafür, daß sie sich den Zorn der Götter zugezogen hatte. Aber nicht den Krebs hatten sie ihr zur Heimsuchung geschickt. Ihr war eine Rache subtilerer Art vorbehalten.
    »Ich würde mit dir tauschen, Annie«, flüsterte Polly. »Ja, wirklich. Ich würde sofort mit dir tauschen.«
    »Polly?«
    Ein

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