06 - Denn keiner ist ohne Schuld
schluckte, »da ist er begraben.«
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Polly Yarkin wischte mit einem feuchten Tuch über die Arbeitsplatte und hängte es dann sauber gefaltet über den Rand der Spüle. Es war überflüssige Mühe. In den letzten vier Wochen hatte kein Mensch die Küche im Pfarrhaus benutzt, und es sah ganz so aus, als würde so bald auch keiner sie wieder benutzen. Dennoch kam sie täglich hierher, so wie sie das die letzten sechs Jahre getan hatte, und sah nach dem Rechten, so wie sie für Mr. Sage nach dem Rechten gesehen hatte und ebenso für seine zwei jugendlichen Vorgänger, die jeder dem Dorf genau drei Jahre gegeben hatten, ehe sie weitergezogen waren, um sich höheren Dingen zu widmen. Wenn es so etwas in der anglikanischen Kirche gab.
Polly trocknete sich die Hände an einem karierten Geschirrtuch und hängte dieses an seinen Haken über der Spüle. Sie hatte am Morgen den Linoleumboden gewachst und bemerkte mit Genugtuung, daß sie, wenn sie hinunterblickte, ihr Spiegelbild in der glänzenden Fläche sehen konnte. Natürlich nicht klar und deutlich. Ein Fußboden ist schließlich kein Spiegel. Aber sie konnte ganz gut ihre krausen karottenroten Löckchen erkennen, die sich aus dem fest gebundenen Tuch um ihren Kopf herausgestohlen hatten. Und sie konnte - viel zu klar - die Silhouette ihres Körpers sehen, ihrer Schultern, die sich unter dem Gewicht ihres schweren Busens nach vorn wölbten.
Das Kreuz tat ihr weh wie immer, und ihre Schultern schmerzten vom Zug der Büstenhalterträger. Sie schob den Zeigefinger unter einen und zog ein Gesicht, da die Erleichterung auf der einen Seite den Druck auf der anderen nur um so fühlbarer machte. Mensch, Polly, du kannst vielleicht froh sein, hatten ihre Freundinnen früher neidisch gesagt, den Jungs schlottern schon die Knie, wenn sie nur an dich denken.
Und ihre Mutter hatte auf ihre typisch mütterlich-kryptische Art gesagt, im Zeichen des Kreises gezeugt, von der Göttin gesegnet, und hatte ihrer Tochter zum ersten- und letztenmal den Hintern versohlt, als diese verkündet hatte, sie wollte sich operieren lassen, um ihren großen Busen, den sie als bleischwer und unförmig empfand, verkleinern zu lassen.
Sie bohrte sich beide Fäuste ins Kreuz und sah zu der Wanduhr über dem Küchentisch. Es war halb sieben. So spät am Tag würde kein Mensch mehr ins Pfarrhaus kommen. Es gab keinen Grund, länger zu bleiben.
Tatsächlich gab es keinen Grund, überhaupt noch hierherzukommen. Dennoch kam Polly jeden Morgen und blieb bis nach Einbruch der Dunkelheit. Sie wischte Staub, sie putzte und erklärte den Kirchenvorstehern, es sei wichtig - ja, um diese Zeit gerade unerläßlich -, das Haus für Mr. Sages Nachfolger in Ordnung zu halten. Und während sie arbeitete, paßte sie ständig auf, ob sich drüben beim nächsten Nachbarn des Pfarrers etwas rührte.
Tag für Tag tat sie das, seit Mr. Sages Tod, als Colin Shepherd zum erstenmal mit seinen amtlichen Fragen und seinem amtlichen Notizbuch gekommen war und auf seine ruhige, kompetente Art Mr. Sages Sachen durchgesehen hatte. Immer hatte er ihr nur einen Blick zugeworfen, wenn sie ihm morgens die Tür geöffnet hatte. Immer sagte er nur Hallo, Polly, und sah dann sofort weg. Meistens ging er ins Arbeitszimmer oder ins Schlafzimmer des Pfarrers. Manchmal setzte er sich auch nieder und sah die Post durch. Dann machte er sich Notizen und starrte lange in den Terminkalender des Pfarrers, als sei die Lösung des Rätsels, das den Tod von Mr. Sage umgab, in seinen Terminen zu finden.
Sprich mit mir, Colin, hätte sie am liebsten gesagt, wenn er da war. Komm zurück. Mach, daß es wieder so wird, wie es einmal war. Laß uns doch wieder Freunde sein.
Aber sie sagte nichts dergleichen. Statt dessen bot sie ihm Tee an. Und wenn er ablehnte - nein, danke, Polly, ich gehe gleich wieder -, kehrte sie an ihre Arbeit zurück, polierte den Spiegel, putzte die Fenster, schrubbte Toiletten, Böden, Waschbecken und Badewanne, bis ihre Hände rot und rauh waren und das ganze Haus vor Sauberkeit blitzte. Wann immer sich eine Möglichkeit ergab, musterte sie ihn und zählte sich die Einzelheiten auf, die es ihr leichter machen sollten, ihr Schicksal zu ertragen. Das Kinn ist zu eckig. Die Augen haben zwar eine schöne Farbe, dieses klare Grün, aber sie sind viel zu klein. Die Haare sind unmöglich. Er kämmt sie zurück, aber dann fallen sie in der Mitte auseinander und hängen ihm in die Stirn. Dauernd fummelt er daran herum, fährt mit den
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