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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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leises, körperloses Flüstern in der Finsternis.
    Sie sprang vom Grab zurück, die Hand auf den Mund gedrückt.
    »Polly, sind Sie das?«
    Gleich auf der anderen Seite der Mauer hörte sie knirschende Schritte, das Knistern dürrer Blätter unter Gummistiefeln. Dann sah sie ihn, einen Schatten unter Schatten. Sie roch den Pfeifenrauch, der in seinen Kleidern hing.
    »Brendan?«
    Sie brauchte nicht auf Bestätigung zu warten. Das schwache Licht fiel direkt auf Brendan Powers Hakennase. Niemand sonst in Winslough hatte ein solches Profil. »Was tun Sie denn hier draußen?«
    Er schien eine unterschwellige und unbeabsichtigte Aufforderung aus der Frage herauszuhören. Er sprang über die Mauer. Sie trat zurück. Er kam ihr eilig nach. Sie konnte sehen, daß er seine Pfeife in der Hand hielt.
    »Ich war draußen im Haus, Cotes Hall.«
    Er klopfte seine Pfeife an Annies Grabstein aus, und der verbrannte Tabak, der herunterfiel, legte sich schwarz auf die gefrorene Decke des Grabs. Im nächsten Moment wurde ihm bewußt, wie ungehörig das war, was er getan hatte, und er sagte hastig: »Oh. Verdammt. Tut mir leid.«
    Er ging in die Hocke und fegte den Tabak weg. Dann richtete er sich wieder auf, steckte die Pfeife ein und trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich war auf dem Rückweg ins Dorf. Zu Fuß. Da habe ich jemand auf dem Friedhof gesehen und...«
    Er senkte den Kopf und schien die kaum sichtbaren Spitzen seiner schwarzen Gummistiefel zu studieren. »Ich hab gehofft, daß Sie es wären, Polly.«
    »Wie geht's Ihrer Frau?« fragte sie.
    Er hob den Kopf. »Ach, bei den Renovierungsarbeiten in Cotes Hall hat's schon wieder Sabotage gegeben. Jemand hat im Bad einen Wasserhahn nicht zugedreht. Ein ganzes Stück Teppich ist ruiniert. Rebecca hat sich wahnsinnig aufgeregt.«
    »Das ist doch verständlich«, meinte Polly. »Sie möchte ihr eigenes Heim. Es ist bestimmt nicht einfach, bei den Eltern zu leben, noch dazu, wenn ein Kind unterwegs ist.«
    »Nein, einfach ist das nicht«, bestätigte er. »Für keinen, Polly.«
    Bei der Wärme seines Tons sah sie weg, in die Richtung des fernen Herrenhauses, wo seit vier Monaten Innendekorateure und Handwerker an der Arbeit waren, um das heruntergekommene Gebäude für Brendan und seine Frau bewohnbar zu machen. »Ich verstehe nicht, warum er nicht einen Nachtwächter einstellt.«
    »Er sagt, er läßt sich nicht nötigen. Schließlich habe er ja Mrs. Spence direkt auf dem Grundstück. Er bezahlt sie dafür, daß sie aufpaßt. Und sie müßte bei Gott abschreckend genug sein. Sagt er jedenfalls.«
    »Und hört...«
    Es kostete sie Anstrengung, den Namen auszusprechen und sich dabei nichts anmerken zu lassen. »Und hört Mrs. Spence denn nie was, wenn da jemand Unfug treibt?«
    »Von ihrem Haus aus nicht. Das steht zu weit weg vom Herrenhaus, sagt sie. Und wenn sie ihre Runden macht, ist nie eine Menschenseele zu sehen.«
    »Hm.«
    Sie schwiegen beide. Brendan bewegte sich nervös. Der eisige Boden knackte unter seinen Füßen. Ein Windstoß fuhr durch die kahlen Äste der Kastanie und packte hinten, wo das Kopftuch lose saß, Pollys Haare.
    »Polly.«
    Sie hörte das Drängen und Flehen in seiner Stimme. Beides hatte sie auch stets auf seinem Gesicht gesehen, wenn er sie im Pub gefragt hatte, ob er sich zu ihr an den Tisch setzen dürfte. Als habe er einen siebten Sinn für ihr Tun und Treiben, erschien er jedesmal, wenn sie ins Crofters Inn ging, um ein Glas zu trinken. Und genau wie all die anderen Male wurde ihr innerlich kalt bei seinem Ton.
    Sie wußte, was er wollte. Das gleiche, was alle wollten: Rettung, Flucht, ein Geheimnis, an das man sich klammern konnte, einen hübschen Traum. Was spielte es für eine Rolle, wenn sie dabei verletzt wurde? Wo wurde schon darüber Buch geführt, was für eine kranke Seele zu zahlen sei?
    Sie sind verheiratet, Brendan, hätte sie gern in einem Ton, in dem Geduld und Mitgefühl lagen, zu ihm gesagt. Selbst wenn ich Sie liebte - was nicht der Fall ist, wie Sie wissen -, Sie haben eine Frau. Gehen Sie jetzt nach Hause zu Rebecca und schlafen Sie mit ihr. Sie haben es doch mal ganz gern getan.
    Aber sie war keine Frau, der Zurückweisung und Kälte leichtfielen. Darum sagte sie statt dessen nur: »Ich muß jetzt gehen, Brendan. Meine Mutter wartet mit dem Essen.«
    Und sie ging den Weg zurück, den sie gekommen war.
    Sie hörte, daß er ihr folgte. Er sagte: »Ich begleite Sie. Sie sollten um diese Zeit nicht allein unterwegs sein.«
    »Es

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