06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Winslough tauchten alle möglichen Namen in dem Kalender auf, Vornamen oder auch Nachnamen. Doch es war unmöglich zu erkennen, ob sie Gemeindemitgliedern gehörten oder mit Sages Geschäften in London zu tun hatten.
Er sah auf. »SD«, sagte er zu St. James. »Sagt dir das etwas?«
»Irgend jemandes Initialen.«
»Möglich. Nur hat er sonst an keiner Stelle Initialen eingetragen. Immer sind es vollständige Namen. Was wäre daraus zu schließen?«
»Eine Organisation?«
St. James machte ein nachdenkliches Gesicht. »Die Nazis fallen mir ein.«
»Robin Sage ein Neonazi? Heimlicher Skinhead?«
»Oder der Geheimdienst?«
»Robin Sage, der neue James Bond?«
»Nein, dann wäre es MI5 oder 6, nicht? Oder SIS.«
St. James begann, die Sachen, die er aus dem Karton genommen hatte, wieder einzupacken. »Außer dem Terminkalender war ja nichts Aufregendes zu finden. Briefpapier, Visitenkarten - seine eigenen, Tommy -, Teile einer Predigt über die Lilien auf dem Felde, Tinte, Stifte, Gartenbücher, zwei Päckchen Tomatensamen, ein Hefter mit Korrespondenz voller Entlassungs- und Bewerbungsschreiben. Eine Bewerbung an...«
St. James runzelte die Stirn.
»Was denn?«
»Cambridge. Nur teilweise ausgefüllt. Doktor der Theologie.«
»Und?« »Das ist es nicht. Es ist die Bewerbung. Das Formular, nur teilweise ausgefüllt. Das hat mich daran erinnert, was Deborah und ich - und dabei fällt mir ein, was es bedeuten könnte. Wie wär's mit Sozialdienst?«
Lynley sah den Bezug zu St. James' persönlichem Leben. »Er wollte ein Kind adoptieren?«
»Oder ein Kind unterbringen?«
»Du lieber Gott. Maggie?«
»Vielleicht fand er Juliet Spence als Mutter untauglich.«
»Das hätte sie zur Gewalt treiben können, ja.«
»Es ist auf jeden Fall eine Überlegung wert.«
»Aber in der Richtung hat es doch nicht einmal eine Andeutung gegeben - von keinem hier.«
»Das ist bei Mißhandlungen meistens so. Du weißt, wie das läuft. Das Kind ist voller Mißtrauen und hat Angst, sich jemandem anzuvertrauen. Wenn es schließlich doch jemanden findet, dem es vertraut...«
St. James schloß die Klappen des Kartons und drückte das Klebeband wieder fest.
»Wir haben Robin Sage vielleicht in ganz falschem Licht betrachtet«, sagte Lynley. »Diese vielen Zusammentreffen mit Maggie allein. Da ging es vielleicht gar nicht um Verführung, sondern um das Bemühen, die Wahrheit herauszubekommen.«
Lynley setzte sich in den Schreibtischsessel und legte den Terminkalender nieder. »Aber das sind zwecklose Spekulationen. Wir wissen nicht genug. Wir wissen nicht einmal, wann er in London war, weil aus dem Terminkalender nicht hervorgeht, wo er war. Der Kalender enthält zwar Namen und Zeiten, aber abgesehen von Bradford wird niemals ein Ort genannt.«
»Aber er hat sich die Quittungen aufgehoben«, sagte Polly Yarkin von der Tür her. Sie hatte ein Tablett mit einer Teekanne, zwei Tassen und einem zerdrückten Päckchen Schokoladenbiskuits in den Händen. »Die Hotelquittungen. Die hat er aufgehoben. Da können Sie doch die Daten vergleichen.«
Sie fanden den Hefter mit Robin Sages Hotelquittungen im dritten Karton, mit dem sie ihr Glück versuchten. Fünfmal war er diesen Unterlagen zufolge in London gewesen, das erste Mal im Oktober, dem Tag, der in seinem Terminkalender mit dem Namen Yanapapoulis markiert war. Lynley verglich die Daten der Quittungen mit den entsprechenden Eintragungen im Terminkalender, doch das brachte ihm lediglich drei weitere Hinweise ein, die halbwegs verheißungsvoll aussahen: den Namen Kate, der am elften Oktober, also bei Sages erstem Londoner Besuch, in das Buch eingetragen war; eine Telefonnummer zur Zeit des zweiten Besuchs; SD wiederum zur Zeit seines dritten.
Lynley wählte die Nummer. Es war eine Londoner Nummer. Eine Frau, deren Stimme die Erschöpfung eines langen Arbeitstags verriet, sagte: »Sozialdienst«, und Lynley lächelte St. James zu und hob die Faust mit aufgerichtetem Daumen. Das Gespräch jedoch war wenig gewinnbringend. Es gab keine Möglichkeit festzustellen, aus welchem Grund Robin Sage mit dem Sozialdienst in Kontakt gestanden hatte. Es gab dort niemanden namens Yanapapoulis, und es war unmöglich, rückwirkend festzustellen, mit wem Sage gesprochen hatte, als er angerufen hatte, wenn überhaupt. Doch wenigstens hatten sie jetzt etwas, womit sie arbeiten konnten, wenn es auch nicht viel war.
»Hat Mr. Sage zu Ihnen einmal etwas über den Sozialdienst gesagt, Polly?« fragte Lynley.
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