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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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von einem Kindermädchen, wenn David und Sid es nicht gerade zum Haus hinausgetrieben hatten.«
    »Bist du dir mißhandelt vorgekommen?«
    St. James knöpfte seinen Mantel zu. Hier ging kaum ein Lüftchen - die Kirche schützte vor dem Wind, der fast immer durch das Tal fegte -, aber der feuchte Nebel legte sich ihm klamm auf die Haut und schien durch Muskeln und Blut bis in die Knochen zu sickern. Er unterdrückte ein Frösteln und dachte über die Frage nach.
    Seine Mutter im Zorn war immer ein beängstigender Anblick gewesen. Wie Medea pflegte sie zu toben. Sie schlug schnell zu und wurde noch schneller laut und ließ die Kinder, wenn sie eine Schandtat begangen hatten, im allgemeinen stundenlang - manchmal tagelang - links liegen. Niemals handelte sie ohne Ursache; niemals strafte sie ohne Erklärung. Und doch hätten manche - und in der heutigen Zeit wahrscheinlich viele - ihr höchste Unzulänglichkeit vorgeworfen, das wußte er.
    »Nein«, sagte er mit Überzeugung. »Wir waren eine wilde Bande und haben bei jeder Gelegenheit über die Stränge geschlagen. Ich glaube, sie hat ihr Bestes getan.«
    Lynley nickte und wandte sich wieder der Betrachtung der Kirche zu. Viel, fand St. James, gab es da nicht zu sehen. Das Mondlicht glänzte auf dem Dach und umfloß silbern die Silhouette eines Baumes auf dem Friedhof. Alles andere lag im Dunkeln: die Glocke im Glockenturm, das Giebeldach der Friedhofspforte, das kleine Nordportal. Die Stunde des Abendgottesdiensts näherte sich, aber es war niemand da, der die Vorbereitungen dafür traf.
    St. James wartete. Unter dem Arm trug er den Karton Verschiedenes, den sie mitgenommen hatten. Er stellte ihn zu Boden und versuchte mit seinem Atem die Hände zu wärmen. Lynley schien aus seinen Gedanken zu erwachen. Er sah St. James an und sagte: »Entschuldige. Wir sollten gehen. Deborah wird sich schon wundern, was aus uns geworden ist.«
    Aber er rührte sich nicht von der Stelle. »Ich habe nachgedacht.«
    »Über gewalttätige Mütter?«
    »Zum Teil. Aber mehr darüber, wie das alles zusammenpaßt. Wenn es alles zusammenpaßt. Wenn die geringste Möglichkeit besteht, daß da irgend etwas zusammenpaßt.«
    »Die Kleine, als sie heute mit dir sprach, hat nichts gesagt, was auf Mißhandlung hätte schließen lassen?«
    »Maggie? Nein. Aber das würde sie bestimmt auch niemals tun. Wenn es so war, daß sie Sage etwas gesagt hat - etwas, das ihn veranlaßte zu handeln und das ihm dann von der Hand ihrer Mutter den Tod brachte -, würde sie bestimmt kein zweites Mal mit irgend jemand darüber sprechen. Sie würde sich ja für das, was passiert ist, voll verantwortlich fühlen.«
    »Ich habe den Eindruck, du glaubst trotz des Anrufs beim Sozialdienst sowieso nicht recht an diese Idee.«
    Lynley nickte. Der Nebel dämpfte das Mondlicht, und im Halbschatten wirkte sein Gesicht grüblerisch. »›Und wenn sich der Gottlose von seiner Gottlosigkeit bekehrt und tut, was recht und gut ist, so soll er deshalb am Leben bleiben.‹ Hat Sage dieses Gebet auf Juliet Spence bezogen oder auf sich selbst?«
    »Vielleicht auf gar niemand. Du liest da vielleicht zuviel hinein. Es kann doch sein, daß diese Stelle nur zufällig in dem Gebetbuch eingemerkt war. Oder sie kann sich auf etwas ganz anderes beziehen. Vielleicht wollte Sage damit jemanden trösten, der zur Beichte zu ihm gekommen war. Vielleicht wollte er mit diesem Satz die Leute wieder in die Kirche locken, wir wissen ja, daß ihm das am Herzen lag. Tuet das, was gut und recht ist: Geht sonntags zum Gottesdienst.«
    »An Beichte hatte ich gar nicht gedacht«, bekannte Lynley. »Ich behalte meine schlimmsten Sünden für mich, und ich kann mir gar nicht vorstellen, daß andere es anders halten. Aber mal angenommen, es hat tatsächlich jemand Sage gebeichtet und hat es später bereut.«
    St. James ließ sich den Gedanken einen Moment durch den Kopf gehen. »Da sind die Möglichkeiten so gering, daß ich es für unwahrscheinlich halte, Tommy. Dieser Geständige, der es hinterher bedauerte, sich Sage anvertraut zu haben, hätte dann ja jemand sein müssen, der wußte, daß Sage an dem fraglichen Abend zum Essen zu Juliet Spence ging. Und wer wußte es?«
    Er begann die Personen aufzuzählen. »Einmal Mrs. Spence selbst. Dann Maggie.«
    Auf der anderen Straßenseite wurde krachend eine Tür zugeschlagen. Sie drehten sich herum und hörten im selben Moment eilige Schritte. Colin Shepherd öffnete die Tür zu seinem Landrover, hielt jedoch

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