06 - Denn keiner ist ohne Schuld
abzuwägen.
»Wer ist ermordet worden?« fragte sie.
»Robin Sage.«
Ihr starres Gesicht löste sich, sie atmete tief auf. »Also gut dann. Ich wohne in Lambeth, und meine Jungs warten schon. Wenn Sie mit mir reden wollen, müssen Sie's dort tun.«
»Ich habe meinen Wagen draußen«, sagte Lynley, und als sie aus dem Laden gingen, rief Stace ihnen hinterher: »Ich ruf trotzdem Harold an!«
Als Lynley die Tür hinter ihnen schloß, ging gerade ein Wolkenbruch nieder. Er spannte seinen Schirm auf, doch obwohl er für sie beide groß genug gewesen wäre, hielt Sheelah Abstand und zog sich unter ihren eigenen kleinen Knirps zurück. Sie schwieg, bis sie im Auto saßen und in Richtung Lambeth fuhren, und auch dann sagte sie nur: »Tolles Auto, Mister. Ich hoffe nur, es hat eine Alarmanlage, sonst ist da nichts mehr dran, wenn Sie aus meiner Wohnung wieder rauskommen.«
Sie strich über den Ledersitz. »Meinen Jungs würde das gefallen.«
»Sie haben drei Kinder?«
»Fünf.«
Sie klappte ihren Mantelkragen hoch und sah zum Fenster hinaus.
Lynley warf ihr einen Blick zu. Sie gab sich resolut und illusionslos, ihre Sorgen waren die einer Erwachsenen, dennoch sah sie nicht alt genug aus, um fünf Kinder geboren zu haben. Sie konnte noch keine dreißig sein.
»Fünf«, wiederholte er. »Die werden Sie auf Trab halten.«
Sie sagte: »Biegen Sie hier links ab. Sie müssen die South Lambeth Road runterfahren.«
Sie fuhren in Richtung Albert Embankment, und als sie in der Nähe des Vauxhall-Bahnhofs in einen Stau gerieten, lotste sie ihn durch ein Gewirr von Seitenstraßen zu dem Hochhaus, in dem sie mit ihrer Familie lebte. Zwanzig Stockwerke, Stahl und Beton, schmucklos, von Wohnsilos gleicher Art umgeben. Die vorherrschenden Farben waren verrostetes Bleigrau und ein schmutziges Beige.
In dem Lift, in dem sie nach oben fuhren, roch es nach nassen Windeln. Seine hintere Wand war mit Bekanntmachungen aller Art gepflastert: Bürgerversammlungen, Vereine zur Verbrechensbekämpfung, Notrufzentralen für sämtliche Eventualitäten, von Vergewaltigung bis zur Aidshilfe, alle hatten sie sich hier verewigt. Die Seitenwände waren aus gesprungenem Spiegelglas. Die Türen waren mit einem Gekritzel unleserlicher Graffiti beschmiert.
Sheelah schüttelte ihren Schirm aus, schob ihn zusammen, steckte ihn in ihre Manteltasche, nahm ihr Kopftuch ab und lockerte ihr Haar. Sie tat das, indem sie es vom Scheitel aus nach vorn zog, so daß es wie ein Hahnenkamm aufstand.
»Hier lang«, sagte sie, als die Lifttüren sich öffneten, und führte ihn einen schmalen Korridor hinunter in den rückwärtigen Teil des Hauses. Rechts und links waren numerierte Türen. Dahinter hörte man Musik, das Dröhnen von Fernsehapparaten, Stimmengewirr. Eine Frau kreischte: »Billy, laß mich sofort los!«
Ein Baby schrie.
Aus Sheelahs Wohnung hörte man eine erboste Kinderstimme. »Nein, das tu ich nicht! Und du kannst mich auch nicht dazu zwingen!«
Dazu erklang das Scheppern einer Kindertrommel, die jemand schlug, der nicht gerade ein ausgeprägtes Rhythmusgefühl hatte. Sheelah sperrte die Tür auf und rief: »Wer von meinen Jungs hat einen Kuß für Mama?«
Augenblicklich war sie von drei ihrer Kinder umgeben, lauter eifrige kleine Jungen, von denen einer den anderen überschrie.
»Philip hat gesagt, wir müssen ihm gehorchen, aber das stimmt gar nicht, Mama, oder?«
»Er hat Linus zum Frühstück Hühnerbrühe gegeben.«
»Hermes hat meine Socken an und zieht sie einfach nicht aus, und Philip hat gesagt...«
»Wo ist er, Gino?« fragte Sheelah. »Philip! Komm, gib deiner Mama einen Kuß.«
Ein schlanker, braunhäutiger Junge von vielleicht zwölf Jahren kam mit einem Holzlöffel in der einen und einem Topf in der anderen Hand aus der Küche. »Ich mach grade Kartoffelbrei«, sagte er. »Diese blöden Kartoffeln kochen dauernd über. Ich muß aufpassen.«
»Aber erst mußt du deiner Mama einen Kuß geben.«
»Ach, komm.«
»Du kommst.«
Sheelah deutete auf ihre Wange. Philip trottete zu ihr hin und gab ihr pflichtschuldig einen flüchtigen Kuß. Sie puffte ihn leicht und griff ihm ins Haar, aus dem das Plektron, das er zum Kämmen benutzte, emporragte wie ein Kopfschmuck aus Plastik. Sie zog es heraus. »Hör auf, dich wie dein Vater zu benehmen. Das macht mich ganz verrückt, Philip.«
Sie schob es ihm in die Hüfttasche seiner Jeans und gab ihm einen Klaps auf den Hintern. »Das sind meine Jungs«, sagte sie zu Lynley. »Und der
Weitere Kostenlose Bücher