06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Mann hier ist von der Polizei, Freunde. Benehmt euch also lieber anständig, habt ihr verstanden?«
Die Jungen starrten Lynley an. Er gab sich größte Mühe, nicht zurückzustarren. So nebeneinander stehend, sahen sie eher aus wie eine kleine Völkergemeinschaft als wie Angehörige ein und derselben Familie, und es war klar, daß jedem von den Kindern bei den Worten dein Vater eine andere Person vorschwebte.
Sheelah stellte sie vor, mit einem zärtlichen Kneifen hier, einem Küßchen dort. Philip, Gino, Hermes, Linus. »Und mein Lämmchen Linus, der mich mit seinen Halsschmerzen die ganze Nacht nicht hat schlafen lassen.«
»Und Peanut«, sagte Linus und klopfte seiner Mutter sanft auf den Bauch.
»Richtig. Und wieviel macht das dann, Schätzchen?«
Linus hielt mit gespreizten Fingern seine Hand hoch und grinste strahlend, mit laufender Nase.
»Und wie viele Finger sind das?« fragte ihn seine Mutter.
»Fünf.«
»Wunderbar.«
Sie kitzelte ihn am Bauch. »Und wie alt bist du?«
»Fünf!«
»Richtig.«
Sie zog ihren Trenchcoat aus und reichte ihn Gino mit den Worten: »Verlegen wir diese Konferenz in die Küche. Wenn Philip Kartoffelbrei macht, muß ich mich um die Würstchen kümmern. Hermes, räum diese Trommel weg und kümmere dich um Linus' Nase. Ach Mensch, doch nicht mit dem Hemdzipfel.«
Die Jungen folgten ihr in die Küche, einem von vier Räumen, die vom Wohnzimmer abgingen. Die beiden Kinderzimmer, sah Lynley, die mit Spielsachen, zwei Fahrrädern und einem Haufen schmutziger Wäsche vollgestopft waren, blickten zum benachbarten Hochhaus hinaus. Es war so eng in ihnen, daß man sich kaum rühren konnte: zwei Stockbetten in dem einen Zimmer, ein Doppelbett und ein Kinderbett im anderen.
»Hat Harold heute morgen angerufen?« fragte Sheelah gerade Philip, als Lynley in die Küche kam.
»Nee.«
Philip wischte den Küchentisch mit einem Spüllappen ab, der tiefgrau war. »Den Kerl mußt du abschieben, Mama. Der ist doch ein Schwein.«
Sie zündete sich eine Zigarette an und legte sie, ohne inhaliert zu haben, in einen Aschenbecher, neigte sich über den aufsteigenden Rauch und atmete tief ein. »Das kann ich nicht, Schatz. Peanut braucht ihren Daddy.«
»Ja, okay. Aber das Rauchen tut ihr bestimmt nicht gut, oder?«
»Ich rauch doch gar nicht. Siehst du mich vielleicht rauchen? Hab ich vielleicht eine Zigarette im Mund?«
»Das ist doch genauso schlecht. Du atmest den Rauch ein, oder vielleicht nicht? Den Rauch einatmen ist genauso schlecht. Wir könnten alle an Krebs sterben.«
»Du bildest dir immer ein, du wüßtest alles. Genau...«
»... wie mein Vater.«
Sie nahm eine Bratpfanne aus einem der Schränke und ging zum Kühlschrank. Zwei Listen hingen an der Tür, die mit vergilbtem Klebeband festgemacht waren. Regeln stand oben auf der einen, Pflichten auf der anderen. Diagonal über beide hinweg hatte jemand die Worte Ach, schleich dich, Mama geschrieben. Sheelah riß die beiden Listen herunter und drehte sich nach ihren Söhnen um. Philip stand am Herd und wachte über seine Kartoffeln. Gino und Hermes krochen unter dem Tisch herum. Linus vergnügte sich mit ein paar Cornflakes, die jemand auf dem Boden liegengelassen hatte.
»Wer von euch war das?« fragte Sheelah. »Los, ich möcht es wissen. Wer von euch war das, verdammt noch mal?«
Schweigen. Die Jungen sahen Lynley an, als wäre er gekommen, sie wegen eines Verbrechens zu verhaften.
Sheelah knüllte die Papiere zusammen und schleuderte sie auf den Tisch. »Wie heißt die Regel Nummer eins? Gino?«
Er versteckte seine Hände hinter dem Rücken, als fürchtete er, eins auf die Finger zu bekommen. »Das Eigentum anderer respektieren«, sagte er.
»Und wessen Eigentum war das? Wessen Eigentum hast du da beschmiert?«
»Ich war's doch gar nicht.«
»Ach nein, du warst es nicht? Erzähl keine Märchen. Du machst doch dauernd nur Mist. Du nimmst jetzt diese Listen mit in euer Zimmer und schreibst sie zehnmal ab.«
»Aber Mama...«
»Und du kriegst erst was zu essen, wenn du fertig bist. Hast du das verstanden?«
»Ich hab doch gar nichts...«
Sie packte ihn am Arm und stieß ihn in Richtung Kinderzimmer. »Laß dich hier nicht wieder blicken, solange die Listen nicht fertig sind.«
Die anderen Jungen tauschten verstohlene Blicke, als er weg war. Sheelah ging zum Aschenbecher und amete eine neue Dosis Rauch ein. »Ich könnte nicht einfach so aufhören«, sagte sie zu Lynley. »Mit anderen Sachen könnte ich das, aber mit
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