06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Pfarrer nie Weihrauch benutzt hat und sich auch nicht mit Seidengewändern und Spitze aufgedonnert hat. Aber ich finde, für einen richtigen Pfarrer gibt's viel wichtigere Dinge. Und um die wichtigen Dinge hat Mr. Sage sich echt gekümmert.«
Simon hörte dem Geplapper des Mädchens mit halbem Ohr zu. Sie goß ihnen Kaffee ein und reichte ihnen einen Porzellanteller, auf dem sechs Petits fours in Regenbogenfarben lagen, gastronomisch äußerst fragwürdig.
Der Pfarrer sei wirklich sehr aktiv gewesen, berichtete Josie. Er hatte eine Jugendgruppe ins Leben gerufen - sie sei übrigens zweiter Vorstand und für die Kontaktpflege verantwortlich -, er hatte regelmäßig die Kranken besucht, die das Haus nicht verlassen konnten, und er hatte sich bemüht, die Leute dazu zu bewegen, wieder in die Kirche zu kommen. Er hatte jeden im Dorf beim Namen gekannt. Dienstag nachmittags hatte er den Kindern in der Grundschule vorgelesen. Wenn er zu Hause gewesen war, hatte er die Tür immer selbst geöffnet. Er war überhaupt nicht eingebildet gewesen.
»Ich habe ihn in London flüchtig kennengelernt«, sagte Deborah, »und fand ihn sehr nett.«
»Das war er auch. Wirklich. Und deswegen wird's auch immer ein bißchen heikel, wenn Mrs. Spence hier aufkreuzt.«
Josie beugte sich über den Tisch und rückte die Tortenspitze unter den Petits fours zurecht. Den Teller selbst schob sie näher an die kleine Tischlampe mit dem Troddelschirm heran, um das farbenprächtige Gebäck ins rechte Licht zu rücken. »Ich meine, es war ja schließlich nicht irgend jemand, dem dieser Irrtum passiert ist. Sondern ausgerechnet sie.«
»Aber jeder, dem so ein Fehler unterlaufen wäre, wäre eine Zeitlang gewiß mit einer gewissen Skepsis behandelt worden«, meinte Deborah. »Besonders, da Mr. Sage so beliebt war.«
»Ja, aber Mrs. Spence ist eine Kennerin«, widersprach Josie eilig. »Sie sammelt Kräuter und Pflanzen. Sie kennt sich aus. Sie hätte doch eigentlich wissen müssen, was sie da ausgegraben hat, ehe sie's dem Pfarrer vorsetzte. So sagen jedenfalls die Leute. Im Pub. Sie wissen schon. Die kauen die Geschichte immer wieder durch, wie einen alten Knochen. Und sie lassen nicht locker. Denen ist es ganz egal, was bei der Leichenschau rausgekommen ist.«
»Eine Kräutersammlerin, die den Schierling nicht erkannt hat?« fragte Deborah.
»Ja, genau darüber regen sich die Leute auf.«
Simon hörte schweigend zu. Unversehens kehrte das Bild Ian Rutherfords wieder, wie er auf dem Arbeitstisch mit der Sorgfalt des Kenners die Gläser mit den Proben aufreihte, während der Formaldehydgeruch, der wie das Parfüm eines Leichenfledderers von ihm ausging, jeden Gedanken ans Mittagessen abtötete. Kommen wir gleich zu den
Primärsymptomen, Herrschaften, pflegte er kreuzfidel zu sagen, während er jedes Glas mit großer Geste bezeichnete. Brennender Schmerz in der Kehle, exzessive Speichelbildung, Nausea. Weiter Schwindel, ehe die Konvulsionen anfangen. Es handelt sich hier um spasmodische Zuckungen, die die Muskulatur versteifen. Erbrechen wird durch krampfhaftes Verschließen des Mundes ausgeschlossen. Befriedigt pochte er auf den Metalldeckel eines der Gläser, in dem ein menschlicher Lungenflügel zu schweben schien. Tod innerhalb von fünfzehn Minuten, kann aber auch bis zu acht Stunden dauern. Asphyxie. Herzversagen. Komplettes Versagen der Atemorgane. Und wieder pochte er auf den Deckel. Fragen? Nein? Gut. Genug des Cicutoxins. Weiter zum Curare. Primärsymptome...
Doch St. James hatte seine eigenen Symptome, und er spürte sie, noch während Josie weiterplapperte: Unruhe zunächst, ein ausgeprägtes Unbehagen. Hier nun haben wir ein typisches Beispiel, sagte Rutherford. Aber das Beispiel, das er gab, der Punkt, auf den er hinaus wollte, war nicht zu fassen. St. James legte sein Messer weg und nahm sich eines von den Petits fours. Josie strahlte.
»Den Guß habe ich selbst gemacht«, sagte sie. »Ich finde, die mit Grün und Rosa schauen am schönsten aus.«
»Zu welchem Zweck sammelt sie Kräuter?«
»Mrs. Spence?«
»Ja.«
»Sie macht Medizin aus ihnen. Sie pflückt alles mögliche im Wald und oben in den Hügeln und vermischt es miteinander und zerstampft es. Gegen Fieber und Krämpfe, Kopfschmerzen und so. Maggie - Mrs. Spence ist ihre Mutter, und sie ist meine beste Freundin, sie ist echt nett -, also Maggie war noch nie in ihrem Leben beim Arzt, hat sie gesagt. Wenn sie irgendwo eine Wunde hat, mixt ihre Mutter gleich eine Salbe.
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