06 - Denn keiner ist ohne Schuld
nicht angezogen, und daraus schöpfte Lynley neue, wenn auch zaghafte, Hoffnung. Ebenso aus seiner festen Überzeugung, daß sie eine Entfremdung zwischen ihnen ebensowenig wollte wie er. Sicher, Helen war verärgert über ihn - vielleicht nur geringfügig mehr als er über sich selbst -, aber sie hatte ihn nicht ganz abgeschrieben. Irgendwie mußte ihr doch Vernunft beizubringen sein, und wenn nur, indem man ihr vor Augen hielt, wie leicht er selbst in den vergangenen zwei Monaten ihre einstigen romantischen Bindungen hätte falsch auslegen können, wäre er je auf den idiotischen Gedanken gekommen, die Geister ihrer früheren Liebhaber heraufzubeschwören, wie sie das jetzt bei ihm getan hatte. Sie würde ihm natürlich entgegenhalten, daß es ihr überhaupt nicht um seine früheren Geliebten ginge, daß sie sie ja nicht einmal ins Gespräch gebracht habe. Ihr ginge es vielmehr um die Frauen im allgemeinen und seine Einstellung ihnen gegenüber und um dieses machohafte Hey-hey-ich-schieb-heute-nacht-wieder-eine-heiße-Nummer, das ihrer Auffassung nach hinter seiner Gewohnheit steckte, eine Krawatte um den äußeren Knauf seiner Schlafzimmertür zu schlingen.
Er sagte: »Natürlich habe ich kein Mönchsleben geführt. Und du hast auch nicht wie eine Nonne gelebt. Aber das wußten wir doch beide schon immer voneinander.«
»Was soll das heißen?«
»Nichts. Es ist schlicht Tatsache. Wenn wir jetzt anfangen, einen Balanceakt zwischen der Vergangenheit und der Zukunft unseres gemeinsamen Lebens zu versuchen, stürzen wir garantiert ab. Das geht einfach nicht. Was wir haben, ist jetzt. Darüber hinaus die Zukunft. Meiner Meinung nach sollte dem unsere erste Sorge gelten.«
»Das hier hat mit der Vergangenheit nichts zu tun, Tommy.«
»Doch. Es ist noch keine zehn Minuten her, daß du gesagt hast, du kämst dir vor wie ›Seiner Lordschaft flottes kleines Sonntagnacht-Vergnügen‹.«
»Du hast überhaupt nicht verstanden, worum es mir geht.«
»Ach ja?«
Er neigte sich über die Bettkante und hob seinen Morgenrock auf, der irgendwann am vergangenen Abend dort auf dem Boden gelandet war. »Bist du ärgerlicher über eine Krawatte am Türknopf...«
»Über das, was die Geste impliziert.«
»... oder über die Tatsache, daß ich meinem eigenen absolut blöden Geständnis zufolge diese Masche schon früher drauf hatte?«
»Ich denke, du kennst mich gut genug, um eine solche Frage gar nicht erst stellen zu müssen.«
Er stand auf, schlüpfte in den blauen Morgenrock und sammelte die Kleider ein, die er am vergangenen Abend kurz vor Mitternacht in aller Eile hatte fallen lassen. »Und ich denke, du bist in deinem Innern ehrlicher mit dir selbst, als du jetzt mit mir bist.«
»Wieder eine Anschuldigung. Das gefällt mir nicht besonders. Und ebensowenig gefällt mir der Beigeschmack von Überheblichkeit.«
»Deine oder meine?«
»Du weißt, was ich meine, Tommy.«
Er ging durch das Zimmer und zog die Vorhänge auf. Es war ein trister Tag draußen. Ein böiger Wind trieb schwere Wolken von Ost nach West, und eine dünne Frostschicht lag wie Gaze auf dem Rasen und den Rosenbüschen im Garten seines Hauses. Eine der Katzen aus der Nachbarschaft hockte auf der Backsteinmauer, an der dichter Nachtschatten in die Höhe kletterte. Wie zwei übereinanderliegende Kugeln aus Kopf und Körper hockte sie dort, das scheckige Fell vom Wind zerzaust, das Gesicht verschlossen, und schaffte es, nach typischer Katzenmanier, gleichzeitig majestätisch und unberührbar zu wirken. Lynley wünschte, er besäße dieses Talent auch.
Er wandte sich vom Fenster ab und bemerkte, daß Helen ihn im Spiegel beobachtete. Er ging zu ihr und stellte sich hinter sie.
»Wenn ich wollte«, sagte er, »könnte ich mich beim Gedanken an die Männer, die deine Liebhaber waren, in blinde Wut steigern. Um der Wut nicht direkt Ausdruck geben zu müssen, könnte ich dich dann beschuldigen, du hättest diese Männer nur für deine eigenen Zwecke mißbraucht, nämlich um dir selbst zu schmeicheln und dein Selbstwertgefühl zu heben. Aber meine Wut wäre dennoch die ganze Zeit da, würde unmittelbar unter der Oberfläche schwelen, ganz gleich, wie heftig meine Vorwürfe wären. Ich würde die Wut lediglich ablenken, indem ich meine Aufmerksamkeit - ganz zu schweigen von meiner selbstgerechten Empörung - auf dich richte.«
»Clever«, sagte sie und sah ihn an.
»Was?«
»Diese Methode, der entscheidenden Frage auszuweichen.«
»Und die wäre?«
»Was
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