06 - Denn keiner ist ohne Schuld
leben, zu klein. Nun war Barbara zwar kein Zwerg, aber die Ansprüche, die sie an ein Zuhause stellte, waren äußerst bescheiden. Sie hatte nicht vor, große Einladungen zu geben, sie wollte weder heiraten noch eine Familie gründen, sie arbeitete viel und brauchte im Grund nur einen Ort, an dem sie nachts Ruhe finden konnte. Das Cottage würde völlig genügen.
Sie hatte den Mietvertrag sehr aufgeregt unterschrieben. Dies würde ihr erstes eigenes Zuhause sein. Sie machte Pläne, wie sie das Häuschen einrichten würde, wo sie die Möbel kaufen, welche Fotos und Bilder sie an die Wände hängen würde. Sie ging in ein Gartencenter und sah sich Pflanzen an, schrieb sich auf, was für Pflanzen für Blumenkästen geeignet waren, welche viel Sonne brauchten und welche wenig. Sie ging das Häuschen der Länge und der Breite nach ab, sie nahm für die Fenster und Türen Maß und war, als sie nach Acton zurückkehrte, voller Pläne und Ideen, die sämtlich total unrealistisch und undurchführbar erschienen, als sie erkannte, wie umfangreich die Instandsetzungsarbeiten für das alte Haus sein würden.
Innenanstrich, Außenreparaturen, neue Tapeten, Ausbesserung des Holzes, Teppichreinigung - die Liste schien endlos. Und nicht genug damit, daß sie bei dem Bemühen, ein Haus zu renovieren, für das nichts mehr getan worden war, seit sie von der Schule abgegangen war, ganz auf sich allein gestellt war - das allein war schon reichlich entmutigend -, wenn sie eine Aufgabe dann wirklich in die Tat umgesetzt hatte, überkam sie immer ein unbestimmbares Gefühl von Unbehagen.
Dies betraf ihre Mutter, die seit zwei Monaten in Greenford, etwas außerhalb Londons, lebte. Sie hatte sich in dem Heim mit dem Namen Hawthorn Lodge relativ gut eingelebt, aber Barbara fragte sich auch jetzt noch, wie weit sie das Schicksal herausforderte, wenn sie das alte Haus in Acton tatsächlich verkaufte und in eine hübschere Gegend umzog, um sich unter dem Motto Neues Leben - Neue Träume in einem verlockend bohemienhaften Häuschen einzunisten, in dem für ihre Mutter eigentlich kein Platz war. Ging es nicht in Wirklichkeit um etwas ganz anderes als lediglich darum, durch den Verkauf eines nunmehr zu großen Hauses den möglicherweise langen Aufenthalt ihrer Mutter in Greenford zu finanzieren? War der Verkauf des Hauses nicht vielleicht nur ein Vorwand, hinter dem sich ihr persönlicher Egoismus versteckte?
Du hast dein eigenes Leben, sagte sie sich mindestens zehnmal am Tag mit Nachdruck. Es ist kein Verbrechen, dein eigenes Leben zu führen, Barbara. Aber wenn nicht gerade das ganze Projekt ihr über den Kopf wuchs, fühlte sie sich wie eine Verbrecherin. Sie war ständig hin und her gerissen, machte Listen all der Dinge, die erledigt werden mußten; sagte sich verzweifelt, daß sie das niemals alles schaffen würde; fürchtete den Tag, an dem das ganze über die Bühne, das Haus verkauft und sie endlich frei sein würde.
Wenn sie zwischendurch auf ihre innere Stimme horchte, gestand Barbara sich ein, daß das Haus etwas war, an dem sie sich festhalten konnte, eine letzte Illusion von Geborgenheit in einer Welt, zu der sie keinerlei Bindung hatte. Obwohl sie seit Jahren hier keinen Menschen mehr gehabt hatte, auf den sie hatte bauen können - das lang andauernde Leiden ihres Vaters und der geistige Verfall ihrer Mutter hatten das unmöglich gemacht -, das Leben in demselben alten Haus, in demselben alten Viertel vermittelte wenigstens einen Anschein von Geborgenheit. Dies aufzugeben und ins Unbekannte vorzustoßen. Manchmal erschien ihr Acton ungleich besser.
Es gibt keine einfachen Antworten, hätte Inspector Lynley gesagt; nur das Leben bringt die Antworten. Aber der Gedanke an Lynley machte sie unruhig, und sie zwang sich, Hilliers Memo weiterzulesen. Die Zeilen sagten ihr nichts. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Da sie nun einmal, ohne es zu wollen, den Gedanken an ihren Vorgesetzten heraufbeschworen hatte, würde sie sich damit auseinandersetzen müssen.
Nur wie? Sie legte das Memorandum zu den anderen Berichten und Akten, die sich während seiner Abwesenheit auf dem Schreibtisch gestapelt hatten, und kramte in ihrer Schultertasche nach ihren Zigaretten. Als sie sie gefunden hatte, zündete sie sich eine an, blies den Rauch in die Luft und starrte mit zusammengekniffenen Augen ins Leere.
Sie stand in Lynleys Schuld. Er würde es natürlich bestreiten, ganz zweifellos mit einem Ausdruck so tiefer Verwunderung, daß sie einen
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