06 - Denn keiner ist ohne Schuld
wollte. Er habe mit ihr darüber sprechen wollen, erklärte er, als sie die Papiere auf die Kommode geknallt hatte. Er fände, es sei an der Zeit, sich gründlich auszusprechen.
Es gab nichts, worüber man sich aussprechen mußte. So eine Aussprache führte höchstens zu einem Streit, der sich zu einem ziemlichen Gewitter entwickelte, aus Mißverständnissen Tempo und Kraft gewann und mit Worten, die im Zorn und zur Selbstverteidigung herausgeschleudert wurden, zerstörerisch wirkte. Nicht das gemeinsame Blut machte eine Familie aus, würde er ach so vernünftig sagen, weil Gott wußte, daß Simon Allcourt-St. James Wissenschaftler, Gelehrter und die Logik in Person war. Menschen machen eine Familie aus. Menschen, die durch Zeit, durch Nähe und gemeinsame Erfahrung miteinander verbunden sind, Deborah. Wir bauen unsere Beziehung auf dem Geben und Nehmen von Gefühlen, auf der wachsenden Sensibilität für die Bedürfnisse des anderen, auf gegenseitiger Unterstützung auf. Die Anhänglichkeit eines Kindes an seine Eltern hat überhaupt nichts damit zu tun, wer es geboren hat. Sie entwickelt sich aus dem täglichen Zusammenleben, aus dem Genährtwerden und Geführtwerden, aus der Tatsache, daß da ein Mensch ist - ein zuverlässiger Mensch -, dem man vertrauen kann. Das weißt du.
Aber das ist es doch gar nicht, das ist es nicht, wollte sie dann sagen, während ihr schon die verhaßten Tränen kamen und sie am Sprechen hinderten.
Was ist es dann? Sag es mir. Hilf mir zu begreifen.
Meines - es wäre nicht - deines. Es wäre nicht wir. Verstehst du das denn nicht? Warum willst du das nicht sehen?
Er pflegte sie dann einen Moment anzusehen, ohne etwas zu sagen, nicht um sie durch inneren Rückzug zu strafen, so hatte sie sein Schweigen früher ausgelegt, sondern um nachzudenken, eine Lösung zu finden. Dabei wünschte sie sich doch nichts weiter, als daß auch er weinen und durch seine Tränen zeigen würde, daß er ihren Kummer verstand.
Weil er das niemals tun würde, konnte sie das Letzte, Unsagbare zu ihm nicht sagen. Sie hatte es ja noch nicht einmal zu sich selbst gesagt. Sie wollte den Schmerz nicht spüren, der die Worte begleiten würde. Daß er sich niemals geschlagen gab; daß er das Leben nahm, wie es auf ihn zukam, und es seinem Willen gefügig machte.
Dir ist es ja gleichgültig, waren die Worte, die sie wählen würde. Dir bedeutet das ja nichts. Du willst mich gar nicht verstehen.
Wie praktisch so ein Schlagabtausch war.
Sie war an diesem Morgen losgezogen, um eine Konfrontation zu vermeiden. Draußen auf dem Hochmoor, während sie mit dem Wind im Gesicht über holprigen Boden wanderte, hier und dort einem dornigen Ginsterstrauch auswich und durch winterbraunes Heidekraut stapfte, hatte sie sich ganz auf die körperliche Verausgabung konzentriert.
Jetzt jedoch, in der Stille der Kirche, gab es kein Ausweichen. Sie konnte die Gedenksteine betrachten, zusehen, wie mit dem Sterben des Lichts die Farben der Fenster dunkler wurden, die zehn Gebote lesen, die in Bronze gemeißelt das Retabel bildeten, und darüber nachdenken, wie viele von ihnen sie bisher gebrochen hatte. Sie konnte über dem schiefgetretenen Boden der Kirchenbank der Familie Townley-Young ihre Beine baumeln lassen, und sie konnte die Mottenlöcher im roten Altartuch zählen. Sie konnte die kunstvollen Holzarbeiten des Lettners bewundern. Sie konnte über den Klang der Glocken nachsinnen. Aber der Stimme ihres Gewissens, das die Wahrheit sprach, konnte sie nicht entrinnen:
Wenn ich diese Papiere ausfülle, so heißt das, ich gebe auf. Es ist ein Eingeständnis der Niederlage. Es bestätigt mir, daß ich eine Versagerin bin, keine Frau. Der Schmerz wird zwar nachlassen, aber vergehen wird er nie. Und das ist nicht gerecht. Denn dies ist das einzige, was ich mir wünsche.
Deborah stand auf und stieß die Pforte des Kirchenstuhls auf. Sie hörte wieder Simons Worte: Willst du dich selbst bestrafen, Deborah? Sagt dir dein Gewissen, du habest gesündigt und könntest nun Buße tun, indem du ein Leben durch ein anderes ersetzt, das du selbst hervorgebracht hast? Ist es das? Glaubst du, mir das zu schulden?
Vielleicht zum Teil. Denn er war die Vergebung selbst. Wäre er ein anderer Mensch gewesen - einer, der gelegentlich geschimpft oder ihr den Vorwurf gemacht hätte, sie sei selbst an der Situation schuld -, so hätte sie es vielleicht leichter ertragen können. Aber gerade weil er nichts tat, als nach einer Lösung zu suchen und seiner
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