06 - Denn keiner ist ohne Schuld
gewußt, wie er Lynley einzuordnen habe.
»Kann ich Sie unter vier Augen sprechen?« sagte er und fügte dann mit einem Blick auf St. James hastig hinzu: »Ich meine, außerhalb des Pubs. Ich würde mich selbstverständlich freuen, wenn Ihre Freunde uns Gesellschaft leisten.«
Es gelang ihm, diesen Vorschlag in angemessenem Ton vorzubringen.
Lynley wies mit dem Kopf zu der Tür, die in den Aufenthaltsraum für Hotelgäste führte. Townley-Young ging voraus. Im Aufenthaltsraum war es, wenn dies überhaupt möglich war, noch kälter als im Speisesaal, und hier gab es keinen zusätzlichen Heizlüfter, der wenigstens die Füße wärmte.
Deborah schaltete die Lampe ein und richtete ihren Schirm gerade. St. James nahm eine aufgeschlagene Zeitung aus einem der Sessel, warf sie auf das Sideboard, auf dem das Lektüreangebot für die Gäste lag - größtenteils uralte Ausgaben von Country Life, die aussahen, als würden sie sofort in Staub zerfallen, wenn man sie unbedacht aufschlug -, und setzte sich. Deborah ließ sich auf einem Sitzkissen nieder.
Lynley bemerkte, daß Townley-Young einen neugierigen Blick auf St. James' krankes Bein warf, sich dann hastig abwandte, um nach einem Platz für sich Ausschau zu halten. Er wählte das Sofa, über dem eine grauenvolle Reproduktion der Kartoffelesser hing.
»Ich bin gekommen, weil ich Ihre Hilfe brauche«, sagte Townley-Young. »Beim Abendessen hörte ich, daß Sie hier sind - so etwas spricht sich in Winslough mit der Geschwindigkeit eines Lauffeuers herum -, und da beschloß ich, sofort herzukommen und selbst mit Ihnen zu sprechen. Sie sind im Urlaub hier, nehme ich an?«
»Nicht direkt.«
»Dann wegen dieser Geschichte mit Sage?«
Lynley antwortete mit einer Gegenfrage. »Können Sie mir über Mr. Sages Tod etwas sagen?«
Townley-Young drückte den Knoten seiner grünen Krawatte. »Nicht direkt.«
»Aber?«
»Nun, auf seine Art war Sage wahrscheinlich ganz in Ordnung. Aber wir waren eben in der Frage der Rituale unterschiedlicher Auffassung.«
»Er war Ihnen wohl zu volksverbunden?«
»In der Tat.«
»Nun, das ist aber gewiß kein Mordmotiv.«
»Ein Mord...«
Townley-Youngs Hand fiel herab. Sein Ton war von eisiger Höflichkeit. »Ich bin nicht hergekommen, um ein Geständnis abzulegen, Inspector, wenn Sie das meinen sollten. Ich habe Sage nicht sonderlich gemocht, und mir hat die Nüchternheit seiner Gottesdienste nicht gefallen. Keine Blumen, keine Kerzen, nur das unbedingt Notwendige. So etwas bin ich nicht gewöhnt. Aber als Pfarrer war er nicht schlecht, und er hatte, wie man so schön sagt, das Herz auf dem rechten Fleck.«
Lynley nahm seinen Cognac und wärmte den Schwenker in seiner Hand. »Gehören Sie nicht zu den Mitgliedern des Kirchenvorstands, die mit Sage gesprochen haben, bevor er eingestellt wurde?«
»Doch, doch. Ich war gegen seine Einstellung.«
Townley-Youngs rotgeäderte Wangen färbten sich noch eine Schattierung tiefer. Die Tatsache, daß der Herr und Gutsbesitzer auf den Kirchenvorstand, dessen vornehmstes Mitglied er zweifellos war, keinen Einfluß hatte, sprach Bände über das Verhältnis der Dorfbewohner zu ihm.
»Nun, dann wird sein Hinscheiden Sie nicht allzu tief bekümmert haben.«
»Wir waren keine Freunde, wenn Sie darauf hinaus wollen. Aber selbst wenn eine Freundschaft zwischen uns hätte entstehen können - er hatte ja gerade erst zwei Monate hier gelebt, als er starb. Ich weiß, in manchen Kreisen unserer heutigen Gesellschaft zählen zwei Monate soviel wie zwei Jahrzehnte, aber ich gehöre, offen gesagt, nicht zu den Leuten, die jeden gleich beim Vornamen nennen, Inspector.«
Lynley lächelte. Sein Vater war seit vierzehn Jahren tot, und seine Mutter besaß eine Vorliebe dafür, traditionelle Schranken einzureißen, da vergaß er manchmal, welches Gewicht die ältere Generation der Art der Anrede als Gradmesser für die Qualität einer Beziehung beimaß. Es überraschte und amüsierte ihn immer wieder, wenn er im Rahmen seiner Arbeit darauf gestoßen wurde.
»Sie sagten vorhin, Sie hätten mir etwas zu berichten, was indirekt mit Mr. Sages Tod zu tun habe«, erinnerte er Townley-Young, der eben zu einer längeren Ausführung über Anredeformen ausholen wollte.
»Insofern, als er sich vor seinem Tod mehrmals auf dem Gelände von Cotes Hall aufgehalten hat.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Ich bin wegen Cotes Hall hier.«
»Cotes Hall?«
Lynley warf einen Blick auf St. James, der mit einer
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