06 - Weihnacht
gezwungen sehen, Euch irgendwo sitzen zu lassen und ohne Euch weiterzureiten. Ihr werdet doch nur ein Fraß für die Geier, weiter nichts!“
„Mr. Eggly, ich habe Euch ruhig angehört, muß aber bitten, daß nun auch Ihr mit derselben Gelassenheit – – –“
„Schweigt!“ unterbrach ihn der Angeredete zornig. „Wir wissen, was Ihr wert, und Ihr wißt nun, woran Ihr mit uns seid; weiter braucht kein Wort gesagt zu werden! Wir werden jetzt das Feuer wieder anbrennen, denn wenn das Krächzen des Vogels eine unwillkommene Störung für uns bedeutet hätte, wäre sie schon längst eingetreten. Ich bin überzeugt, daß niemand Fremdes in der Nähe ist, und wir müssen nun wieder eine hohe Flamme haben, damit unsere Kameraden, wenn sie kommen, uns finden können.“
Er beeilte sich aber mit dem Wiederanzünden des Feuers nicht allzusehr, denn er wollte Corner und Sheppard Gelegenheit lassen, sich in dem jetzt noch herrschenden Dunkel unbemerkt zurückzuziehen. Wir machten natürlich von dem dadurch auch uns gebotenen Vorteile ebenso Gebrauch.
Welch ein Zusammentreffen! Mein Carpio, mein alter, guter, lieber Carpio, hier am Lake Jone, auf der Hochebene des wilden Westens! Ja, wir hatten uns leider aus den Augen verloren! Er war trotz aller Mühe, die ich mir mit ihm gegeben hatte, nicht vorwärts gekommen, und als ich das Gymnasium verließ, nahm ich die Überzeugung mit, daß all sein Würgen erfolglos sein werde. Als Handwerker hätte er es wahrscheinlich eher zu etwas gebracht; Handwerk hat einen goldenen Boden, und wer den Mann, der auf diesem ehrenwerten Boden steht, verachtet, der verdient an sich das, was er tut. Aber Carpio war eines der vielen, vielen Opfer der landläufigen und doch so falschen Ansicht vieler studierter Väter, daß es eine Schande für sie sei, einen nicht studierten Sohn zu haben. Auch Väter, welche es zu einer guten Lebensstellung brachten, ohne eine höhere Schule besucht zu haben, und die nun doch wissen sollten, daß es viele Wege gibt, sich zu einer sogenannten, aber auch nur sogenannten, ‚bessern Existenz‘ emporzuarbeiten, setzen einen Trumpf darauf, wenigstens einen ihrer Söhne irgendeiner Alma mater womöglich mit Gewalt in die widerstrebenden Arme zu treiben. Die Folgen bleiben niemals aus; die Enttäuschung läßt nicht auf sich warten, und wenn man zehn Menschen in die berühmte Klage vom ‚verfehlten Leben‘ einstimmen hört, so kann man getrost behaupten, daß acht oder neun von ihnen Söhne solcher Väter sind.
Carpio war auch ein solches Unglückskind. Ich hatte das vorausgesehen und aus Freundschaft für ihn einmal das Wagnis unternommen, im Laufe eines Gespräches mit seinem Vater in ganz unauffälliger Weise eine darauf bezügliche Bemerkung zu machen, hatte aber den sofortigen Erfolg gehabt, in einer Weise, so was man sagt, abgeblitzt zu werden, daß ich ganz still von dannen ging. Ich hatte da Ausdrücke wie ‚knabenhafte Ansichten, unreife Urteile und unerbetene Einmischung in Angelegenheiten, von denen man gar nichts verstehen kann‘, zu hören bekommen und später dann bemerkt, daß mein Verkehr mit dem Sohne nicht nur passiv nicht mehr gern gesehen, sondern auch in aktiver Weise möglichst verhindert wurde. Das war auch der eigentliche Grund, daß unser schriftlicher Verkehr, den wir nach meinem Fortgange noch einige Zeit unterhielten, nach und nach einschlief. Man glaubte, daß ich diesen Verkehr benutzen werde, Carpio zu bewegen, meiner gegen seinen Vater geäußerten Ansicht Folge zu leisten.
Ich wußte also nicht eigentlich, was aus ihm geworden war, und hätte eher alles, aber nur das nicht, erwartet, den zerfahrenen und unbeholfenen einstigen Freund hier im Wildwest wiederzusehen, wo mit größerer Bestimmtheit als irgend anderswo an den Mann die Forderung tritt, nicht nur ein Mann zu heißen, sondern auch wirklich einer zu sein. Hätte er, als von mir gesprochen wurde, gewußt, daß sein Sappho, dieser ‚Taugenichts und Luftikus‘ hinter seinem Rücken lauschend zwischen den Büschen steckte! Ich kannte schon jetzt sein Verhältnis zu seinem Verwandten so genau, daß er mir später gar nichts darüber zu sagen brauchte. Der alte Gurgelabschneider hatte ihn als einstigen Gymnasiasten zu hoch abgeschätzt, ihn für einen recht brauchbaren jungen Mann gehalten und ihn zu sich nach Amerika kommen lassen, um ihn ohne entsprechende Bezahlung ganz gehörig auszunützen. Da er aber doch sehr bald hinter diesen seinen Irrtum hatte kommen müssen
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