06 - Weihnacht
beherzigen?“
„Ich hoffe es.“
„So sage mir: Wie lautet das siebente Gebot, mein lieber Sohn?“
„Du sollst nicht stehlen“, antwortete er ernsthaft, als ob er ein Examen zu bestehen hätte. „Hälst du mich etwa für fähig, ein Dieb zu sein?“
„Ja.“
„Mensch, ich fordere dich!“
„Das ändert nichts an der Sache. Wer moralisch so heruntergekommen ist, daß er bayrische Zigarren nach Böhmen schmuggelt, der ist jeder Schandtat fähig.“
„Also du auch, mein ehrwürdiger Vater! Kannst du mir beweisen, daß ich schon einmal gestohlen habe?“
„Ob ich das kann, ist hier gleichgültig; die Hauptsache ist, daß du höchstwahrscheinlich heut in der Nacht gestohlen haben wirst, ehe der Hahn zum drittenmal kräht.“
„So sag' mir doch endlich, was mich reizen soll, eine solche Sünde gegen dein bescheidenes Eigentum zu begehen!“
„Ich spreche nicht von meinem, sondern von dem Eigentume unsers hochherzigen Gastgebers Franzi. Schau um dich, und schau über dich! Wende ganz besonders deinen Blick nach oben!“
„Ach, jetzt verstehe ich!“ lachte er.
„Lache nicht, o du mein armes Schmerzenskind! Wer bei dem Gedanken an die Sünde so leichten und fröhlichen Herzens sein kann, wie du bist, der ist ihr bereits verfallen. Du hast weder am Mittag noch am Abend etwas gegessen; es wird die Pein des Hungers über dich kommen und dich aus dem Schlafe wecken. Wenn du dann den erquickenden Duft der Fleischer-, Schlächter-, Selcher- und Wurstler-Gilde verspürst und dein geistiger Blick sogar zu gleicher Zeit nach jenem lieblichen Kuchenschrägen gerichtet wird, so steht dir die schwerste Versuchung nahe, da in jeder Wurst ein Satan wohnt und der oberste der Teufel die Gewohnheit hat, grad die frömmsten Herzen mit geräuchertem Schinken zu bombardieren. Es ist meine Pflicht, dich zu warnen; nun sorge du dafür, daß meine wohlgemeinten Worte nicht auf den Felsen oder unter die Dornen fallen, wo sie nicht aufgehen und Früchte tragen können! Halte fest an deiner Pflicht, und bleibe ein ehrlicher Mensch! Und nun Gutenacht, mein teurer Sohn!“
„Gute Nacht, lieber Urgroßvater! Willst du dich wirklich schon schlafen legen?“
„Ja, denn es ist für die Gesundheit stets besser, der Nachtwächter zu sein, der die Nachtwacht in der Vormitternacht gewacht gehabt hat, als der Nachtwächter, der die Nachtwacht in der Nachmitternacht gewacht gehabt hat. Auch das kannst du dir merken!“
„Ich wollte dich nur fragen, ob ich unsere Geldes wegen die Tür verriegeln soll? “
„Tue es, oder tue es nicht; das ist ganz egal, da wir nicht wissen, ob sich hier im Zimmer oder außerhalb desselben die gefürchteten diebischen Gelüste regen werden.“
„Hast du Zündhölzer bei dir?“
„Ja, ein ganzes Päckchen und das Fläschchen dazu.“
„So lege sie dir zur Hand! Ich werde zwar zuschließen, aber man weiß nicht, ob es fest genug ist. Schläfst du rechts oder links?“
„Auf beiden Seiten, denn ich pflege mich öfters umzudrehen.“
„Ich meine, in welchem Bett du schlafen willst!“
„Jedenfalls nicht in dem, in welches du dich legen wirst.“
„Schrecklicher Mensch! Ich nehme das hier rechts.“
„Wo grad die schönsten Würste darüber hängen? Nein, mein Sohn, das nehme ich. Leg du dich in das andere; da ist der Himmel leer!“
„Höre, Sappho, ich glaube, daß du mich vor dem Diebstahle gewarnt hast, nur um ihn selbst zu begehen!“
„Das beweist, daß du mit Muhammed, der auch einen falschen Glauben gepredigt hat, auf der gleichen Stufe stehst. Nun aber laß mich ruhen! Nochmals Gutenacht!“
„Gutenacht, edler Meergreis, schlaf wohl!“
Ich löschte das Licht aus, setzte es auf meinen Stuhl und legte mich nieder. Als ich grad am Einschlafen war, hörte ich Carpios Stimme:
„Höre, ob sie es wohl abgeben wird?“
„Was?“
„Nun, mein Empfehlungsschreiben.“
„Ach so! Ja, wo lebt denn dein Verwandter?“
„Das weiß ich nicht.“
„Was ist er?“
„Das weiß ich nicht.“
„Wie heißt er?“
„Das weiß ich nicht.“
„Höre, lieber Freund, wenn dein Verwandter etwa nur in deiner Phantasie zu suchen ist, so war es eine Schlechtigkeit von dir, dieser armen Frau weiszumachen, daß – – –“
„Schweig!“ unterbrach er mich. „So ein Halunke bin ich natürlich nicht. Mein Verwandter existiert wirklich, aber nur für solche Leute, für welche ich ihn existieren lassen will.“
„Also für mich nicht?“
„Nein.“
„Für andere
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