06 - Weihnacht
glaubt – – –! Suchen – – suchen – – – im Verscheiden – – – Erlösungsstern – – – zur Herrlichkeit des Herrn – – –!“
Dann stieß er plötzlich einen überlauten Schrei aus, richtete sich in die Höhe, deutete mit der Hand wie in weite Ferne und rief in angstvoller Hast:
„Er schießt, er schießt – – – spring weg, spring weg; er schießt!“
Dann sank er wieder nieder. Nun ging sein Atem laut röchelnd, langsamer, immer langsamer, bis ich glaubte, er sei ganz weggeblieben; da aber hörte ich ihn noch einmal mit ruhiger, deutlicher Stimme sagen:
„Ich gehe jetzt, meine Tochter; aber nur mein Körper scheidet; meine Seele wird bei dir bleiben und dich behüten immerdar. Ich segne dich; ich segne euch. Der Herr sei euer Heil und euer Schirm! An seinem Throne werde ich unaufhörlich für euch beten. Habt Dank – – – lebt wohl – – – lebt wohl, ihr lieben – – lieben – – – lieben – – –!“
Das letzte Wort erstarb zur Unhörbarkeit. Es wurde still, stiller als vorher. Nicht einmal das Feuer schien knistern zu dürfen. Da wendete die Frau sich ihrem Sohne zu und sagte in einem Tone, als ob ihr Leben nun auch zu Ende gehe:
„Stefan, dein Großvater ist gestorben; mir und dir ist er gestorben. Weine du; ich kann es nicht!“
Nun erst, nachdem sie sich dem Knaben zugewendet hatte, sah sie uns. Sie stand langsam auf, kam wie eine nur die Füße bewegende Statue auf uns zu und sagte mit seelenloser Stimme:
„Die Gymnasiasten von vorgestern. Was wollen Sie?“
„Sie haben Ihre Schiffskarte in Falkenau liegen lassen, und wir bringen sie Ihnen nach“, antwortete ich.
Ihre Augen waren nicht auf mich, sondern wie durch die Wand hindurchgerichtet, und es klang, als ob sie zu einem Abwesenden spreche:
„Danke; legen Sie sie hier auf den Tisch!“
„Ihre Gültigkeit läuft Anfang Februar ab“, fuhr ich fort, da ich es trotz der dazu ganz unpassenden Situation für meine Pflicht hielt, ihr diese Mitteilung zu machen. „Nun Ihr Vater gestorben ist, wird Ihnen der Bremer Lloyd den Betrag der auf seinen Namen lautenden Karte zurückzahlen, denn bei Todesfällen verfällt die Summe nicht.“
„Ich weiß nicht, ob ich bis nach Bremen komme“, erklang es kalt und ohne Ton.
„Sie müssen hin. Ein Freund von Ihnen hat mir das für Sie gegeben; stecken Sie es ein!“
Es war, als ob ich gar nicht anders könnte, ich mußte diese Worte sagen und meinen ‚Geldschrank‘ unter der Weste hervorziehen, um ihn ihr zu geben. Sie steckte den Beutel ein, ohne ihn anzusehen, ja, ohne ihn, wie es schien, eigentlich in der Hand zu fühlen.
„Geben Sie das aber ja nicht für das Begräbnis her!“ fügte ich hinzu. „Sie brauchen es zum Fahren unterwegs.“
„Ich werde es verstecken“, nickte sie wie ein Automat.
„Und hier in diesem Paket ist für Sie etwas zu essen, was ich mitgebracht habe. Gute Nacht, Frau Wagner!“
„Gute Nacht!“
Ich gab dem Knaben die Hand und ging mit Carpio hinaus; die Botenfrau folgte uns. Draußen fragte ich sie:
„Haben Sie alles gehört, was ich zu der Frau gesagt habe?“
„Alles“, nickte sie. „Jedes Wort.“
„Sagen Sie ihr alles, aber auch alles wieder, denn sie scheint nicht draufgehört zu haben! Sie muß den Beutel verstecken, daß man ihr das Geld nicht nimmt, welches sie zur Reise braucht. Für das Begräbnis hat die Gemeinde zu sorgen, zu welcher diese Mühle gehört. Und damit Sie etwas für die richtige Ausführung dieses Auftrages haben, halten Sie die Hand auf!“
Sie tat es, und ich schüttete ihr mein Reisegeld hinein; dann gingen wir fort, im Halbdunkel des hereingebrochenen Abends den Weg zurück, den wir gekommen waren.
Was ich dabei dachte? Nichts, gar nichts. Ich hatte wie unter einer Eingebung gehandelt und bereute nicht, es getan zu haben. Der Busenfreund trollte lange Zeit schweigend hinter mir her, bis es ihn doch endlich trieb, das Schweigen zu unterbrechen:
„Du, Sappho, diese alte Mühle und diese Sterbeszene werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen! Wieviel hast du der Frau gegeben?“
„Alles.“
„Deine zwanzig Spartaler und unsere zehn Gulden? Mensch, du bist ein großartiger Kerl! Aber ich nicht minder! Ich hätte es ihr auch gegeben, gradso wie du! Und was hat die alte Frau bekommen?“
„Mein Reisegeld.“
„Das ganze?“
„Ja.“
„Wieviel hattest du noch?“
„Ich weiß es nicht.“
„Er weiß es nicht! Großartig! Er
Weitere Kostenlose Bücher