06 - Weihnacht
nachsichtig zu sein?“ fragte er.
„Ja.“
Da las er, und ich hörte ihm an, wie er sich zwingen mußte:
„Hat Carpio mitten in der Nacht Einen Kuchen ganz zu Quark gemacht,
So stöhnt er unter Angst und Bangen:
‚Ich hab den Hunger übergangen!‘“
„Du hast also, als ich schlief, einen ganzen Quarkkuchen aufgegessen?“
„Ja“, gestand er mit einer wahren Armensündermiene. „Ich habe es dir doch vorhergesagt!“
„Nein! Du hast nur gesagt, daß der Verlust schwerer zu entdecken sei, wenn man ihn ganz aufißt. Einen ganzen, ganzen Quarkkuchen von vier Vierteln und acht Achteln! Das bringt doch höchstens nur ein Elefant fertig! Wie ist es dir denn darauf geworden?“
„Schauderhaft, sage ich dir, schauderhaft! Ich werde noch auf Jahre hinaus zittern, wenn ich das Wort Quark nur höre! Übriglassen durfte ich nichts, und als ich mit Ach und Weh fertig war, begann der hinterlistige Teig in mir aufzuquellen!“
„Da dauerst nicht etwa du mich, sondern der edle Löwe, der elend hat ersticken müssen! Du konntest dir doch denken, daß die Wirtin ihre Kuchen gezählt hatte!“
„Das dachte ich natürlich wohl; aber daß sie dann nachzählen würde, dachte ich nicht. Du kannst es mir glauben, lieber Sappho: Wenn du das Quadrat der längsten Hypotenuse samt den Quadraten ihrer beiden Katheten mit einem ganzen Topf voll Gurkensalat und saurer Sahne verzehrst, wird das, was du dann fühlst, gegen das, was ich empfunden habe, als grenzenlose Behaglichkeit bezeichnet werden müssen.“
„Und“, fuhr er nach einer Weile fort.„der körperliche Jammer war nicht der einzige, den ich empfand, denn wie, wie habe ich auch geistig, seelisch leiden müssen! Dich zum Beispiel die herrlichen großen Klöße essen sehen zu müssen, ohne mittun zu können, das war eine wahrhaft teuflische Grausamkeit, mit welcher mein Schicksal mich strafte. Dann die Schlittenfahrt! Deine Fröhlichkeit, deine lachenden Augen, während ich wie ein in der Magengegend harpuniertes Walroß dick und angeschwollen hinter dir im Schlitten hockte! Es war mir, als hätte ich hunderttausend Zähne verschluckt, welche alle mit Zahnschmerzen behaftet waren, die nun in meinem Inneren zu wüten begannen. Ich gebe dir mein Wort, daß – – –“
„Halt ein, halt ein!“ mußte ich jetzt laut auflachen. „Die Schmerzen von hunderttausend kariösen Zähnen! Dieser Vergleich ist so pompös, so genial und dabei doch so Mitleid erweckend und nach Erbarmen schreiend, daß ich, ich mag nun wollen oder nicht, dem armen, harpunierten Walroß meine Gnade wieder zuwenden muß.“
„Was!“ rief er da, vor Freude aufspringend. „Du wolltest – – –? du wolltest wirklich – – – lieber Sappho?“
„Ja, ich will!“
„Da – da – – – da könnte ich aus Liebe und lauter Dankbarkeit gleich noch – – noch – – noch –?“
„Nun was!“
„– – – gleich noch einen Quarkkuchen essen, hätte ich beinahe gesagt, aber natürlich keinen gestohlenen! Armer Sappho! Auch du hast unter dem Verdacht gestanden – – –“
„O nein“, unterbrach ich ihn. „Franzi war pfiffig genug, deinem berühmten übergangenen Heißhunger sofort anzusehen, daß du allein der Schuldige warst. Du hast ihm und seiner Frau heimlich ungeheuern Spaß gemacht.“
„Ich danke! Mir war es nicht sehr spaßhaft zumute! Also, du denkst nicht, daß sie zornig auf mich sind?“
„Nein, das denke ich nicht. Es bleibt an deiner Ehre doch immer ein Stück von dem Quarke kleben, welches nicht wegzubringen ist. Wollen die Sache auf sich beruhen lassen und machen, daß wir von hier fortkommen!“
„Gut, brechen wir auf! Also, du bist nicht mehr bös' auf mich?“
„Nein.“
„Bist wieder gut, vollständig wieder gut?“
„Vollständig!“
Da schob er mir das Bier hin, von welchem wir noch keinen Schluck getrunken hatten, und forderte mich auf:
„Trink, Sappho!“
„Warum trinkst denn du nicht, Carpio?“
„Weil ich aus lauter Dankbarkeit das große Opfer bringen und dir alles lassen will.“
„Danke! Ich mag nichts.“
„Warum nicht?“
„Ich sehe und rieche schon von weitem, daß es sauer ist.“
„Das rieche ich nicht; aber es ist eine Schwabe drin ertrunken. Siehst du sie nicht?“
„Ach, darum deine große, aufopferungsvolle Dankbarkeit?!“
„Ja. Sogar die Schwabe wollte ich dir allein lassen. Komm, wollen gehen!“
Wir banden unser Paket wieder zusammen und gingen; nach kurzer Zeit war Falkenau
Weitere Kostenlose Bücher