06 - Weihnacht
deutete:
„Dort ist er gleich wieder hinaus, als er schnell aufgestanden war. Das ging so im Nu, daß man ihn fast gar nicht deutlich sehen konnte!“
Das Gelächter verdoppelte sich natürlich. Übrigens hatte der famose Westmann ganz klug daran getan, sich sofort aus dem Staube zu machen, denn er hätte nach dieser Zurechtweisung doch nur eine jämmerliche Figur gespielt. Was mich betrifft, so wollte man mich in Beschlag nehmen; man schlug vor, daß alle sich an einem Tische zusammensetzen möchten; ich brachte aber irgendeine glaubhafte Entschuldigung vor und ging auf mein Wohnzimmer, um dort den Tisch zur Arbeit herzurichten, denn ich hatte vor, trotz des Ballgeräusches die Nacht hindurch bis zum Morgen zu schreiben.
Meine Stube hing durch eine Tür mit der nebenan liegenden zusammen; der Schlüssel steckte auf meiner Seite. Ohne irgendein Mißtrauen zu hegen, folgte ich nur der alten, westmännischen Gewohnheit, meine Umgebung genau zu kennen, und schloß die Tür auf. Man hatte jenseits einen Schrank vorgesetzt, welcher so breit und so hoch war, daß er nicht nur die Tür, sondern auch ihre Einfassung vollständig verdeckte. Wer als Fremder jenseits wohnte, konnte also leicht der Meinung sein, daß der Schrank an der Mauer stehe und eine Tür gar nicht vorhanden sei.
Nun kam die Zeit, der Einladung von Frau Hiller zu folgen. Das Abendbrot war zubereitet, und wir setzten uns, als ich kam, sofort zu Tische. Man schien erwartet zu haben, daß ich jetzt weniger schweigsam sein sondern erzählen werde, weshalb ich nach Amerika gekommen sei und was ich bis heutigen Tages erlebt habe; ich wies das aber von mir, selbstverständlich in einer Weise, die sie nicht beleidigen konnte. Hierauf erfuhr ich, warum sich im Arbeitszimmer des Sohns fast nur Bücher juristischen Inhaltes befanden.
Den eigentlichen Grund, weshalb die Familie die Heimat verlassen hatte, wo diese Heimat lag und welchem Stande Hiller angehört hatte, das erfuhr ich nicht und hütete mich auch, mir nur durch eine Silbe den Anschein zu geben, als ob ich es gern erfahren möchte. Diese Verhältnisse konnten mir bei all meiner Teilnahme für die Leute, bei denen ich mich befand, vollständig gleichgültig sein. Aber ich merkte, daß es ein Band gab, welches sie mit der Heimat zusammenhielt und nicht zerrissen werden sollte. Es war ihnen ein großes Unrecht geschehen, dem sie wehrlos gegenübergestanden hatten. Man hatte eine, wie es schien, sehr schwere Schuld auf sie geworfen, deren Folgen, also der Bestrafung, zu entgehen, sie geflüchtet waren. Die Ehre der Familie war verlorengegangen, und sie schien bis heute ihr ganzes Bestreben darauf gerichtet zu haben, diese Ehre wiederherzustellen, um in die Heimat zurückkehren zu können. Es galt, Beweise ihrer Unschuld zu erbringen, wozu es guter gerichtlicher und wahrscheinlich auch polizeilicher Kenntnisse bedurfte, und weil sie sich keinem Fremden anvertrauen konnten oder wollten, war der Sohn Jurist geworden und hatte sich, ohne nach einer Anstellung in den Vereinigten Staaten zu verlangen, ausschließlich darauf verlegt, die einschlägigen Gesetze seines Vaterlandes zu studieren. Sobald er sich dazu reif fühlte, sollte an die Lösung der so schwierigen Aufgabe gegangen werden.
Das Studium des Knaben und die Hingabe an die Erreichung dieses einzigen, großen Lebenszweckes hatte natürlich Opfer gefordert, vor allen Dingen pekuniäre. Hiller hatte verdienen müssen und doch zu keinem erwerblichen Berufe Kenntnisse oder Geschick besessen, was mich auf die Vermutung brachte, daß die Familie eine aristokratische sei und das Haupt derselben bis zum Hereinbruche des Unglückes nur der Repräsentation gelebt habe, ein Beruf, welcher ein großes Vermögen erfordert und zwar in den heimatlichen Verhältnissen möglich, aber im Lande der rastlosen Arbeit jenseits des Ozeans mit keinem einzigen Cent bewertet ist. Zu seinem und der Seinen Glück war Hiller ein guter Jäger gewesen, und es gelang ihm, bei einer der großen Pelzfirmen Engagement zu finden. Er arbeitete sich mit der Zeit in diesem Fache so empor, daß er ein seinen Absichten genügendes Einkommen erzielte. Freilich konnte er nur kurze Zeit im Jahre daheim sein, und Frau und Sohn mußten sich in steter Sorge um ihn befinden; aber die Macht der Gewohnheit blieb auch hier nicht ohne Wirkung, zumal ihm auf seinen Jagdzügen nie etwas widerfahren war, was man ein Unglück hätte nennen können.
Jetzt aber befanden sich die beiden Personen, bei
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