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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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augenblicklich aufsuchen werde, um es ihm zu zeigen.“
    „Da können Sie jahrelang warten, ehe so einer zufälligerweise einmal nach Weston oder in die Nähe kommt!“
    „Leider! Aber in Jefferson soll Old Shatterhand und sogar auch Winnetou schon einigemal gewesen sein.“
    „Sie haben das Leder noch?“
    „Ja.“
    „Vielleicht genügt es, daß Sie es mir einmal zeigen!“
    „Ihnen?! Meinetwegen! Sie sollen es sehen, nur damit Sie später sagen können, daß Sie ein indianisches Totem oder so etwas in der Hand gehabt haben. Ich hole es!“
    Sie brachte es und gab es mir. Es war ein vierfach zusammengelegtes Lederstück von der Größe eines Papierbogens. Man konnte auf keiner Seite ein Zeichen oder sonst etwas bemerken, was darauf hätte schließen lassen, daß es irgendeine Bedeutung, irgendeinen anderen Zweck gehabt hätte, als überhaupt jedes Lederstück hat. Und doch wußte ich sofort, woran ich war.
    „Nun?“ fragte sie lächelnd. „Nicht wahr, es ist ein Stück Leder wie jedes andere Lederstück?“
    „Nein.“
    „Nicht? Da bin ich wirklich neugierig, was Sie denken! Natürlich wird es ein Irrtum sein!“
    „Ich denke, daß auch einmal ein deutscher Schriftsteller allen Ihren hundert und noch mehr Westmännern beweisen kann, daß sie keine Westmänner sind. Dieses Leder ist ein Brief!“
    „Was? Doch? Sie irren sich! Sie täuschen sich!“ rief sie schnell aus. „Es ist ja ganz und gar nichts darauf zu sehen!“
    „Nicht darauf sondern darin!“
    „Darin? Kann ein Lederstück hohl sein?!“
    „Dieses Lederstück ist oder vielmehr sind eigentlich zwei Stücke Leder!“
    „Unmöglich! Das hätte man doch fühlen und auch an den Rändern sehen müssen.“
    „Pshaw! Wir haben da zwei fein zubereitete Waschbärenfelle vor uns, welche zusammengeklebt sind. Das eine ist der Brief und das andere die Decke.“
    „Warum hätte man eine Decke auf den Brief geklebt?“
    „Um die Schrift zu schonen.“
    „Das hätte man auf einfachere Weise erreichen können, zum Beispiel durch Einwickeln.“
    „Die Decke hat noch einen zweiten Zweck, einen Zweck, welcher mir Besorgnis einflößt.“
    „Warum.“
    „Der Indianer, welcher den Brief gebracht hat, ist ein Feind von Ihnen, also auch Ihres Mannes gewesen. Auf welche Weise hat er Ihnen das Leder gegeben?“
    „Ich war nicht daheim. Er hat es gebracht und gesagt, das sei für die Squaw von Nana-po; dann ist er schnell wieder fortgegangen. Ich habe mich dann nach ihm erkundigt; aber er ist keinen Augenblick in der Stadt geblieben.“
    „Also habe ich recht. Die Beschaffenheit dieses Briefes ist eine solche, daß Sie Zeit brauchten, ihn zu öffnen und zu lesen, und während dieser Frist konnte er flüchten. Der Inhalt des Briefes ist kein guter für Sie.“
    „Um Gott! Wenn Sie ihn doch lesen könnten.“
    „Ich kann ihn lesen!“
    „Das wäre ein Wunder, ein geradezu unbegreifliches Wunder, nachdem so viele Kenner nichts herausgebracht haben!“
    „Das waren keine Kenner, sondern Pfuscher. Wissen Sie vielleicht, was der Lederarbeiter unter ‚Leder schärfen‘ versteht?“
    „Nein.“
    „Die Ränder sind mit einem sehr scharfen Messer verdünnt worden, um besser zusammenzukleben, so daß man nicht bemerkt, daß das Leder aus zweien besteht. Der Kenner aber fühlt sofort, daß die Ränder dünner sind.“
    „Aber man müßte doch in der Mitte fühlen, daß es doppelt ist!“
    „Es ist da auch zusammengeklebt.“
    „Geht da nicht die Schrift beim Auseinanderreißen verloren?“
    „Wir reißen nicht, sondern wir weichen auf.“
    „Da weicht doch auch die Schrift auf!“
    „Nein, denn die ist nicht mit einer Wasserfarbe geschrieben. Bitte, geben Sie mir eine Schere, und bringen Sie eine Schüssel voll Wasser!“
    Als sie beides brachte, schnitt ich auf allen vier Seiten den Rand des Leders weg und legte dieses so in die Schüssel, daß das Wasser darüberstand: dann mußten wir warten, bis der Klebstoff aufgelöst war. Inzwischen hatten wir Zeit, die eiserne Herdplatte durch ein gelindes Feuer zu erwärmen, um den Brief darauf trocknen zu lassen, weil das Trocknen in der Luft zu lange gedauert hätte.
    Es ist eigentlich überflüssig, zu betonen, daß die zwei Personen sich in einer außerordentlichen Spannung befanden. Es wollte ihnen gar nicht einleuchten, daß ein ‚deutscher Schriftsteller‘ nun doch mehr wisse als alle Westmänner, an die sie sich vorher gewendet hatten; aber die Sicherheit und Überzeugung welche ich zeigte, brachten

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