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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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überlegener, geringschätziger Weise anlächelte und ich ihm sagte: „das sollte Ihr sofort erfahren“, stand ich rasch auf, hob seinen Stuhl mit ihm selbst in die Höhe, trug ihn durch die Stube hinüber und setzte ihn dort nieder, wo er vorher gesessen hatte. Als ich wieder zurückging, erscholl ein allgemeines Gelächter, untermischt mit lauten Bravorufen.
    Er sprang sofort wieder auf, kam eiligst hinter mir her und schrie, als ich mich niedergesetzt hatte, mich an:
    „Ihr habt es gewagt, mich anzufassen! Wißt Ihr, was das heißt, was das zu bedeuten hat? Eure Albernheiten habe ich ruhig ertragen, denn sie waren so dumm, daß Ihr mich nur erbarmen konntet; aber tätliche Angriffe kann ein Westmann auf keinen Fall dulden. Wißt Ihr, was ich tun werde?“
    „Nun, was?“ fragte ich, ihn ruhig anlächelnd.
    „Ich werfe Euch hinaus, hinaus bis auf die Straße!“
    „Schön! Tut es, Mr. Watter! Seht, ich stehe auf; hier habt Ihr mich! Ich werde mich gar nicht wehren.“
    Ich stand wieder auf und stellte mich vor ihn hin.
    „Gut, gut!“ rief er. „Soll sofort losgehen! Also hinaus, hinaus!“
    Er faßte mich bald rechts, bald links, bald oben, bald unten, bald hüben und drüben oder hinten und vorne zu gleicher Zeit und brachte mich doch nicht um einen Zentimeter von der Stelle, denn ich hatte die Beine ausgespreizt und die Knie ein wenig gebogen und schob jedem Drucke von ihm den Schwerpunkt meines Körpers entgegen. Wer diesen Vorteil, oder sagen wir lieber Trick, genau kennt und gut eingeübt hat, den bringt selbst ein ungewöhnlich starker Mann nicht leicht von der Stelle. Die Hauptsache ist dabei, daß man nicht den Bruchteil einer Sekunde zögert, seinen Schwerpunkt sofort dem Drucke des Gegners entgegenzuschieben. Man muß diesen Druck, ich möchte sagen, vorherahnen; man darf nicht warten, bis man ihn erst fühlt; läßt man nur einen Augenblick vergehen, so ist's zu spät und man hat die Balance verloren. Daß zur Ausführung dieses Tricks nicht nur Gewandtheit und lange Übung, sondern auch eine gute Körperkraft gehört, das brauche ich eigentlich gar nicht zu sagen.
    Es läßt sich denken, daß alle Gäste ihre Plätze verlassen hatten, um uns zuzuschauen. Es war ein Gaudium für sie, zu sehen, welche Mühe sich Watter gab, seine Drohung wahr zu machen.
    „Los los! Up! Greift zu! Fester, fester! Come on! Hebt, schiebt, schiebt! Huzza, huzza!“ erklang es aufmunternd von allen Seiten. „Wer wettet mit? Ich sage, er bewegt ihn nicht! Einen Dollar, zwei Dollar, fünf Dollars! Jetzt, jetzt! Ach, wieder nichts! Der Mann steht wie ein Fels, wie ein Gebirge! Zehn Dollars setze ich, zehn! Wer wagt sich dagegen!“
    Es versteht sich ganz von selbst, daß diese Rufe meinen Gegner zur größten Anstrengung spornten; er tat, was er konnte, doch ohne jeden Erfolg. Endlich ließ er wieder ab, holte tief Atem und schrie erbost:
    „Dieser Kerl hat entweder den Teufel, oder er ist an die Diele festgenagelt! So etwas habe ich noch nicht erlebt!“
    „Ich will Euch gleich etwas zeigen, was Ihr wohl auch noch nicht erlebt habt!“ lachte ich. „Ihr wolltet mich auf die Straße werfen; ich will es feiner mit Euch machen; Ihr müßt zwar auch hinaus, aber ich werde Euch nicht werfen, sondern tragen. Paßt auf!“
    Um seine Arme und Hände für mich unschädlich zu machen, drehte ich ihn schnell, ehe er es vermutete, um, faßte ihn oben am Rock- und Westenkragen, unten am Gesäß, hob ihn mit einem Ruck in die Höhe, schüttelte ihn einigemal derb auf und nieder, was ihm für den Augenblick die Energie benahm, ging nach der halb offen stehenden Tür, schob diese vollends auf und trug ihn durch den Flur hinaus auf die Straße. Alles, was sich im Zimmer befand, kam unter hellem Gelächter hinterhergelaufen.
    „Wo soll ich ihn hintun, Mesch'schurs?“ fragte ich.
    „Steckt ihn wieder zum Fenster hinein, damit wir ihm drin applaudieren können!“ schlug einer vor.
    „Gut! Da geschieht es schon!“
    Bei diesen Worten schob ich den ‚Freund Winnetous und Old Shatterhands‘ durch das Fenster, mit dem Kopfe voran, und gab, als der Oberkörper drin war, den Beinen einen Stoß, so daß er nieder auf den Boden fiel. Allgemeines Händeklatschen und Bravorufen begleitete diesen leichten Erfolg; dann kehrten wir in die Stube zurück. Kein Watter war zu sehen! Dr. Rost, der einstweilige Oberkellner, beantwortete die erstaunten Fragen, indem er lustig lachend auf ein auch offenes Fenster an der anderen Wand

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