06 - Weihnacht
denen ich saß, in großer Sorge um ihn. Er war, wie schon oft, im zeitigen Frühjahr fortgegangen, um bei den Indianern, mit denen er in Geschäftsverbindung stand, die Erträgnisse der Herbst- und Winterjagd einzuhandeln, und bis heute nicht zurückgekehrt, obgleich er seine Heimkehr für spätestens Anfang Juli festgesetzt hatte. Auf ihre wiederholten, ängstlichen Erkundigungen war Frau Hiller aus St. Louis nur immer der unzulängliche Bescheid zugegangen, daß man selbst noch keine Kunde von ihm oder einem seiner Begleiter bekommen habe und den erwarteten großen Pelzlieferungen schon längst mit Ungeduld entgegensehe. Die Firma schien sich also selbst in Sorge zu befinden; dazu kam, daß sich seit einiger Zeit ein dunkles Gerücht über Feindseligkeiten zwischen den in den nordwestlichen Bergen hausenden Indianerstämmen im Umlauf befand. Ich hatte von diesen Gerüchten noch nichts gehört, weil ich mit Winnetou aus dem Süden und zwar durch Gegenden gekommen war, in denen es keine Weißen gab und wo wir jedes Zusammentreffen mit den Roten hatten vermeiden müssen.
Ich suchte, um Frau Hiller und ihren Sohn zu beruhigen, alle möglichen Gründe zusammen, welche sein langes Ausbleiben erklären konnten, brachte aber damit nicht die beabsichtigte Wirkung hervor. Als ich mich erkundigte, welche Indianerstämme es seien, die er hatte besuchen wollen, antwortete sie:
„Er pflegt das der Konkurrenz wegen immer geheimzuhalten; gegen mich zwar braucht er natürlich nicht verschwiegen zu sein, aber es würde doch zu nichts führen, Ihnen diese Namen alle zu nennen, die Ihnen ja doch unbekannt sind.“
„Sie irren. Ich kenne die Verhältnisse aller Stämme der Vereinigten Staaten besser, als Sie denken.“
„Aus der Ferne, ja, aus Zeitungen und aus Büchern! Sie sind uns ein lieber, hochgeehrter Freund und in Ihrem Fache ein jedenfalls tüchtiger Mann; aber was unsere Sorge um meinen Mann betrifft, da ist es Ihnen unmöglich, uns auch nur einen kleinen Teil der Last zu nehmen. Dazu gehörten Männer, die den Westen kennen und kühn und erfahren genug sind, sich hinauf in die Felsenberge zu wagen, um nach den Vermißten zu forschen. Ein deutscher Schriftsteller, und wenn er der berühmteste wäre, wiegt da auch nicht ein Gramm. Sie verzeihen diese Worte; aber es ist wirklich so! Ich werde nach St. Louis fahren, um dort den Vorschlag zu machen, daß man einige tüchtige Jäger hinaufschickt, aber mutig und klug müssen sie sein und die Verhältnisse genau kennen, nicht solche unbewanderten Leute wie alle die, welche nicht wußten, was das Leder zu bedeuten hatte!“
„Leder?“ fragte ich.
„Ja. Da kann ich Ihnen gleich einen Beweis liefern, daß die Klugheit des klügsten Europäers oder überhaupt Weißen sich an einem Stückchen Leder in Unwissenheit verwandelt.“
„Hm! Ein Stückchen Leder? Gestatten Sie, daß ich mich vor diesem Beweise nicht fürchte! Ich bin nämlich Lederkenner.“
„Oh, in der Weise, wie Sie es meinen, bin ich auch Lederkennerin. Hier aber handelt es sich um die Beantwortung der für mich sehr wichtigen Frage: Welche Bedeutung hat es, wenn ein Indianer zu Ihnen kommt und Ihnen ein Stück Leder gibt?“
„Das Leder ist ein Brief oder hat sonst irgendeine Bedeutung, welche auf eine Mitteilung abzielt.“
„Das hat bis jetzt ein jeder gedacht; aber keiner hat mir auch nur ein einziges Wort über diese Bedeutung sagen können. Ich habe mich hier erkundigt und bin überall herumgefahren; ich bin auch in St. Louis gewesen, wo es bei den Handelsfirmen doch Leute gibt, von denen man Erfolg erwartet; es sind hundert und noch mehr Westmänner, Jäger, Trapper und sonstige Kenner gefragt worden; alle haben das Leder untersucht, aber die Antwort hat stets in einem Kopfschütteln und dem Geständnis bestanden, daß dieses Leder ein ganz gewöhnliches Stück Leder sei und gar nichts zu bedeuten habe. Und doch muß es eine Bedeutung besitzen, und zwar für mich, denn ein Indianer hat es gebracht und dabei gesagt, daß es für die Squaw von Nana-po, so wird mein Mann genannt, bestimmt sei!“
„Sie sagten doch, daß Sie keine Nachricht von Ihrem Manne hätten! Warum haben Sie das Leder nicht schon längst erwähnt?“
„Weil das keinen Zweck gehabt hätte. Was hundert Westmänner nicht sagen können, können auch Sie nicht wissen. Die Bedeutung des Leders wird mir ein Rätsel bleiben, bis einmal so ein Mann wie Old Firehand oder Old Shatterhand in diese Gegend kommt, den ich dann
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