060 - Bis zum letzten Schrei
Vater nur zu gut. Der Alte war nicht
konsequent. Sein Leben und seine Handlungen waren voller Widersprüche. Schon
lange stand für Simon Lautrec Tullier fest, daß sein Vater langsam verkalkte.
Auf der einen Seite ließ er Teile der Burg verwittern, andererseits
restaurierte er. Einmal behauptete er, den ursprünglichen Zustand erhalten zu
wollen, zum anderen erlaubte er Neuerungen. So widersprüchlich sein Wesen war,
so widersprüchlich war das Erscheinungsbild der Burg.
Nur in seinem
künstlerischen Werk hatte Gerard Tullier eine Geschlossenheit gefunden, die ihm
die wohlwollende Kritik der ganzen Welt eingebracht hatte.
Tulliers
Landschaftsmalereien suchten ihresgleichen. Verhaltene Farben und eine
eigenwillige Technik, in der sich expressionistische und surrealistische
Stilelemente mit realen Formen mischten, zeichneten seine Bilder aus. Es waren
schwermütige, romantische Landschaften, die besondere Stimmungen beim
Betrachter hervorriefen.
»Fremdenzimmer?«
fragte Simon Tullier: »Seit wann hast du Gäste auf der Burg? Das ist mir ganz
neu.«
»Ich mußte
lernen, umzudenken. Reiche Amerikaner wollen neuartigen Nervenkitzel auf alten
Schlössern erleben. Das lassen sie sich was kosten. Schwarzenstein ist
prädestiniert dafür, solchen Nervenkitzel zu vermitteln. In den Katakomben und
Kreuzgewölben, dem alten Rittersaal und den Hungertürmen kann einen schon das
Grausen packen. Wenn du dir ein paar Franc verdienen willst, dann habe ich
nichts dagegen. Arbeit gibt es hier genug.«
Davon wollte
Simon Tullier nichts wissen. »Ich kann mich an einem Bombengeschäft beteiligen«,
log er. »Mit einer Einlage von zehntausend bin ich dabei. Gib mir die Chance!«
Gerard Tullier
blickte noch immer nicht auf. »Dir eine Chance geben? Weißt du, wieviel Chancen
ich dir schon gegeben habe? Du hast das Geld verpraßt! In Spielbanken, mit
Weibern… nein, mein Lieber! Von mir kannst du nichts mehr erwarten. Außerdem
habe ich dir bereits gesagt, daß ich keinen Franc erübrigen kann.«
»Dann überlaß
mir eines deiner Bilder.«
»Du bist
verrückt! Du weißt, daß ich mich von keiner Arbeit trenne, die noch hier hängt.«
»Aber damit
könntest du mir helfen. Ich bin dabei, meine Zukunft aufzubauen. Ich verspreche
dir, mich nach der Rückzahlung des Geldes nie wieder bei dir blicken zu lassen,
dich nie wieder um einen Franc anzupumpen.«
Gerard
Tullier blieb hart.
Simon Tullier
löste sich vom Fenster. »Ein Bild, Vater«, bat er und blieb vor einer Arbeit
stehen. »Ich könnte es sofort verkaufen. Ich bekomme einen phantastischen Preis
dafür. Was über zehntausend liegt, bekommst du auf Heller und Pfennig von mir
ausgezahlt.«
Simon Tullier
starrte auf ein Gemälde, das sein Vater als ›Wiesenlandschaft nach dem Gewitter‹
bezeichnet hatte. Satte, dunkle Töne; das regennasse Gras war fast mit den
Händen greifbar, und der Geruch der durchnäßten Erde schien aus dem Bild zu
steigen. In der Ferne hinter den abziehenden Wolkenbergen strahlte ein
rosenfarbener Schimmer, der die Abendröte ankündigte.
»Verkauf
eines der Bilder«, bat Simon Tullier noch einmal.
»Ich denke
nicht daran! Wenn du Geld brauchst, dann besorg es dir woanders. Oder nimm eine
Arbeit an. Ich bin bereit, dich hier eine Weile aufzunehmen. Soiger ist auch
nicht mehr der Jüngste. Er könnte Unterstützung gebrauchen.«
»Ist das dein
letztes Wort?« Simon Tullier lief puterrot an.
Er hatte
gewußt, daß seine Mission nicht einfach sein würde. Aber daß sein Vater so
einen Dickschädel zeigte, das hatte er nicht erwartet. Zumindest mit einem
Tausender hatte er gerechnet, um wenigstens das Hotel für heute nacht bezahlen
zu können. Den Rest konnte er dann immer noch in der Spielbank verwenden.
»Ich komme
vielleicht darauf zurück«, fügte der junge Franzose hinzu. Es hatte keinen
Sinn, es jetzt zum Krach kommen zu lassen. Aufgrund des Gesprächs mit seinem
Vater plagte ihn eine Idee. »Vielleicht sollte ich mir wirklich ein paar Franc
selbst verdienen. Ich überlege mir’s…«
»Tu das! Es
ist das beste, was du machen kannst.« Zum ersten Mal seit der Ankunft seines
Sohnes blickte Gerard Tullier auf. »Aber warte nicht zu lange! Du weißt, daß du
das Geld dringend brauchst.«
Das stimmte.
Simon Tullier glaubte auch, bereits den Weg zu wissen, wie er auf schnelle und
leichte Weise zu dem Besitz kam. Wo reiche Amerikaner abstiegen, war damit zu
rechnen, daß sie Schmuck und viel Geld mit sich führten. Es würde nichts
schaden,
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