060 - Bis zum letzten Schrei
sind es gut hundert Meter. Wir würden bis auf die Haut durchnäßt werden.«
Der Regen
klatschte so hart auf den Boden, daß Gras und Unkraut mit den Wurzeln
herausgespült wurden. Gezackte Blitze spalteten den brodelnden Himmel, und
ohrenbetäubendes Donnern ließ die Luft erzittern.
Eine Windbö
streifte die Gesichter der Umstehenden. Die frische, kühle Luft tat ihnen nach
der Hitze der vergangenen Tage gut.
Mit einem
Rundblick wollte Soiger sich vergewissern, daß er alle seine Schäfchen
versammelt hatte. Seine Augen verengten sich, als er feststellen mußte, daß
statt der zehn Personen, die mit ihm das Felsengewölbe betreten hatten, nur
noch neun aus der Tiefe zurückgekehrt waren!
Er zählte ein
zweites Mal, aber es wurden nicht mehr.
Nachdenklich
drückte er einem der jungen Männer, die an der Führung teilgenommen hatten, die
Petroleumlampe in die Hand.
»Würden Sie
die bitte einige Minuten lang halten? Ich bin sofort zurück. Die junge Dame in
dem türkisfarbenen, ärmellosen Sommerkleid scheint sich nicht an meine
Instruktionen gehalten zu haben«, fügte er murmelnd hinzu.
Die letzten
Worte gingen im Donnergetöse unter. Soiger ging in die Nische, nahm dort von
einer in die Felswand geschlagenen Ablage eine weitere Petroleumlampe und
entzündete sie.
»Ich bin
gleich wieder zurück«, wiederholte er.
Aber er irrte
sich! Nach zehn Minuten war André Soiger noch immer nicht oben. Die Suche nach
der Deutschen erwies sich als kompliziert. Er fand von dem Mädchen keine Spur.
Die Wartenden diskutierten, lachten und amüsierten sich darüber, daß durch den
Stromausfall in der Dunkelheit tatsächlich jemand abhanden gekommen war. Es gab
eben immer wieder Menschen, die aus der Rolle fallen mußten.
Erfolglos
kehrte Soiger aus der Tiefe des Gewölbes zurück. Sein Suchen und Rufen hatte
das Rätsel um die Verschwundene nicht gelöst.
Zum Glück
hatte der Regen etwas nachgelassen. Soiger drängte die Gruppe jetzt, so schnell
wie möglich mit ihm zur Burg hinüberzukommen. Er schloß die Tür hinter sich ab.
In der Gaststätte fanden die neun Teilnehmer Gelegenheit, sich zu dem Vorfall
zu äußern.
»Sie wird den
falschen Weg gegangen sein«, meinte ein breitnasiger junger Bursche. »In der
Dunkelheit kann das passieren.«
Soiger ließ
sich auf keine Diskussion ein. Er beabsichtigte, die Suchaktion gemeinsam mit
Gerard Tullier fortzusetzen. Der Burgaufseher war überzeugt, Tullier in dessen
Arbeitszimmer anzutreffen.
Aber da irrte
André Soiger sich zum zweiten Mal!
Der Burgherr
war im ganzen Trakt nicht auffindbar.
●
Gerard
Tullier ließ den Strahl der Taschenlampe über die kahle, feuchte Wand wandern.
Mit
zitternden Fingern tastete der Burgherr die haarfeinen Risse ab, die sich im
Gemäuer und der naturgewachsenen Felswand abzeichneten.
Er kannte wie
kein Zweiter die Gewölbe und labyrinthischen Gänge am Fuß des Turms und unterhalb
der normalen Kellerräume. Seiner Forschung war es zu verdanken, daß der wahre
Aufbau der Burg Stück für Stück bekanntgeworden war.
Tullier fand
keine Ruhe mehr. Er mußte sich beschäftigen, mußte suchen. In der Linken einen
großen Schlüsselbund mit bronzenen Schlüsseln, in der Rechten die Taschenlampe,
so bewegte er sich Meter für Meter durch das menschenleere, düstere Gewölbe,
das tief in den Felsen führte.
Tullier ging
bis zum Ende des mannshohen, schmalen Tunnels. Dann stand er vor einem
Schuttberg aus Steinen, Felsbrocken und Abfall aus mehreren Jahrhunderten.
Kisten, Flaschen, verrostete Konservenbüchsen waren seit dem Ersten Weltkrieg
dazugekommen.
Kein Mensch
hatte sie jemals weggeräumt.
Tullier war
in einen Abschnitt vorgedrungen, der normalerweise tabu war, weil das Mauerwerk
hier unten zum Teil bröckelig und morsch war.
Von dieser
Stelle hatte einst ein Gang zu einer rund vier Kilometer entfernten Burgruine
geführt. Dort hatte im 13. Jahrhundert ein Bruder des damaligen Ritters gelebt.
Auch dieser Bruder war der Weißen Frau in die Falle gegangen. Sie hatte nach
dem Tod ihrer beiden Kinder die ganze Familie ausgerottet.
Was einst als
Fluchtweg gedacht gewesen war, lag nun als Trümmerhaufen vor Tullier.
Der Maler
lauschte. Hinter dem verschütteten Durchlaß glaubte er ein leises Plätschern zu
hören. Ein unterirdischer Flußlauf?
Auch davon
war in der Geschichte Schwarzensteins etwas vermerkt, aber bisher hatte man nur
einen ausgetrockneten Graben gefunden.
Tullier hatte
den Verdacht, daß hinter dem
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