0602 - Brutstätte des Bösen
Grüne, ähnlich wie der französische Chablis.
»Sie werden begeistert sein«, sagte die Frau und übergab Glenda lächelnd das Tablett. Die Flasche war bereits geöffnet.
»Danke, ich nehme Sie mit auf mein Zimmer.«
»Soll Ihnen unser Hausmädchen das Getränk nach oben tragen?«
»Nicht nötig, ich mache es selbst.«
»Wie Sie wünschen.«
Beide schauten Glenda an, als sie die Stufen hochschritt. Der Weißhaarige lächelte so verträumt, daß seine Frau leicht sauer wurde und ihn anfuhr.
»Tu wieder deine Arbeit, Ernesto.«
»Natürlich, Maria, wie du willst.« So hackte und fluchte er weiter, ohne besser zu werden.
Glenda ging durch den breiten Gang. Überall standen die Fenster offen. Die Geräusche der Straße wehten zu ihr hoch, und sie konnte nicht behaupten, daß ihr diese Laute unsympathisch gewesen wären. Im Gegenteil, sie begann, sich wohl zu fühlen.
Mit dem Ellbogen drückte sie die Klinke nach unten und stieß die Zimmertür auf.
Sie schwang nach innen, schuf Glenda Platz, die das Tablett abstellte, die Tür wieder schloß, sich umdrehte und urplötzlich große Augen bekam. Sie konnte nicht vermeiden, daß sie anfing zu zittern, denn der Gegenstand, der in der Zimmermitte lag, war vorhin, als sie den Raum verlassen hatte, noch nicht da gewesen.
Es war ein handgroßes Kreuz aus Eisen!
Mißtrauisch und vorsichtig trat Glenda auf den Gegenstand zu. In ihrem Kopf begann es zu arbeiten. Sie suchte nach einer Assoziation, und sie wußte auch, daß es sie gab, aber sie konnte sie einfach nicht auf die Reihe bringen.
Das Kreuz glänzte, obwohl es von keinen Sonnenstrahlen berührt wurde. Auch beim näheren Hinschauen konnte Glenda nichts Aufregendes feststellen, wenn sie sich allerdings eine Linie vom Fenster her bis in die Mitte des Zimmers dachte, dann war es durchaus möglich, daß jemand das Kreuz von draußen her in den Raum geworfen hatte.
Aber wer und weshalb?
Glenda Perkins spürte den Druck, auch die Unruhe. Beides war zurückgekehrt. So ähnlich hatte sie sich auch im Abteil und auf dem Bahnsteig gefühlt.
Es war nicht vorbei, es war noch da, das Unbekannte lauerte, es verfolgte sie, es hielt sie unter Kontrolle. Wer immer ihre Gegner auch waren, sie mußte höllisch auf der Hut sein, um nicht überrannt zu werden. Noch stand sie allein. John Sinclair würde erst am nächsten Tag eintreffen.
Glenda umrundete das Kreuz. Sie selbst merkte die innere Abwehr, die sie zwang, sich nicht nach dem Kreuz zu bücken und es an sich zu nehmen. Da war die Stimme, die sie warnte.
Es rührte sich nicht, schien völlig harmlos zu sein. Nach der ersten Runde blieb Glenda wieder an ihrem Ausgangspunkt stehen, atmete tief durch, bückte sich dann, um den Kopf vorstrecken und näher an das Kreuz heranzugehen.
Hätte es Augen besessen, so hätte es sie ansehen können. Nur Glenda schaute es an. Auch dann noch, als sie eine Handbreit vor dem Gegenstand stehenblieb.
Es war schon seltsam, ein Kreuz flößte einem normalen Menschen Vertrauen ein. Hier war das Gegenteil der Fall. Glenda Perkins spürte eine tiefe Abneigung vor dem Gegenstand. Sie wollte es aus dem Zimmer entfernen, nur traute sie sich nicht, die Hand auszustrecken und es an sich zu nehmen. Statt dessen schob sie die Schuhspitze vor. Nur ein kleines Stück, dann fand sie Kontakt.
Glenda trug weiße Leinenschuhe mit schmalen blauen Streifen.
Die Spitze bestand aus hellem Hartgummi – und zischte plötzlich auf, als sie das Kreuz berührte.
Nein, nicht die Spitze des Schuhs. Glenda irrte sich. Es war das Kreuz selbst, das dieses Geräusch abgab, als hätte man glühendes Eisen mit Eiswasser zusammengebracht.
Das war nicht alles.
Was sie in den folgenden Sekunden sah, ließ sie fast an ihrem Verstand zweifeln…
***
Das Kreuz schnellte, wie von einer unsichtbaren Hand geschleudert, in die Höhe, zuckte, zog sich zusammen wie Gummi, verlor dabei seine Festigkeit und verwandelte sich innerhalb einer stinkenden Rauchwolke in einen anderen Gegenstand.
Es war eine Schlange!
Eine lebende, schwarze, fingerdicke Schlange mit bösen, blutroten Augen. In diesem Augenblick fiel es Glenda Perkins wie Schuppen von den Augen. Sie dachte an die Botschaft auf dem Zettel. Dort hatte es geheißen: Er packte das Kreuz, warf es hin, und es wurde zu einer Schlange. Wie jetzt, denn jemand mußte das Eisenkreuz durch das offene Fenster in ihr Zimmer geworfen haben.
Allmählich wurde ihr bewußt, wie groß die Gefahr war, die sie umgab. Hier wollte
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