061 - Der Blutgraf
gewesen. Da Ricarda das Schloß wohl kaum barfuß verlassen hatte, mußte sie noch hier sein. Vielleicht hatte der Conte ihr Drogen gegeben. Ricarda war keine Spielverderberin. Dieses verrückte Mädchen machte überall mit. Vielleicht hatte sie zuviel von dem Zeug erwischt…
Lando sprang vom Fenster herunter. Er lief um das Schloß und rüttelte an jeder Tür. Irgendwo mußte es doch möglich sein, hinein zu gelangen. Die Schlösser waren alt und primitiv. Vor Einbrechern schien Conte Cassandrini keine Angst zu haben.
Er rührt sich nicht, weil er ein schlechtes Gewissen hat! redete sich Lando Volonte ein. Irgend etwas muß mit Ricarda schiefgegangen sein.
Die schmale Tür, an der Lando jetzt rüttelte, klapperte laut. Das war die schwache Stelle, nach der er gesucht hatte. Lando warf sich zweimal dagegen, dann brach das morsche alte Holz knirschend, und mit wenigen Schritten war er im Schloß.
Hier drinnen war die Stille noch vollkommener.
Das Schloß ist ein Grab! durchzuckte es Lando. Ein Mausoleum! Hier können nur Tote wohnen!
»Conte Cassandrini!« schrie er wieder, und das gespenstische Echo legte sich wie ein Eisenring um seine Brust.
Er eilte in die Halle. Auf dem Boden lag ein Stuhl. Lando stellte ihn nicht auf. Er bückte sich nach Ricardas Schuhen und betrachtete sie ratlos.
»Ricarda!« rief er. »Ricarda, wo bist du? Warum antwortest du nicht?«
Ein neuer Verdacht kam ihm. Conte Cassandrini war vielleicht ein Sadist, der die Mädchen, die er hierher brachte, schrecklich quälte. Und damit sie nicht schreien konnten, knebelte er sie.
War das der Grund, warum Ricarda nicht antwortete?
Das Geländer an der Treppe, die nach oben führte, wies kunstvolle Holzschnitzereien auf. Lando stürmte die knarrenden Holzstufen hinauf und suchte seine Schwester in allen Räumen, doch er entdeckte sie nicht und fand auch keine Spur von ihr. Wenn er ihre Schuhe nicht gefunden hätte, hätte er fast meinen können, sie wäre nie hier gewesen.
Eine Wendeltreppe aus Stein führte zu einem Turmzimmer. Auch dort war Ricarda nicht. Enttäuscht kehrte Lando Volonte um.
Sie muß hier sein! sagte er sich starrsinnig. Sie ist hier irgendwo! Vielleicht gibt es Geheimgänge!
»Cassandrini, wo hast du meine Schwester versteckt?«
Er wußte, daß diese wie alle anderen Fragen unbeantwortet bleiben würden. Vom Obergeschoß kehrte er ins Erdgeschoß zurück, und auch hier suchte er Ricarda in sämtlichen Räumen.
»Bleibt nur noch der Keller«, murmelte er, und großes Unbehagen beschlich ihn.
Was versteckt man im Keller? Leichen. Keine Lebenden…
Lando Volonte schluckte nervös. Er wußte, wo sich der Kellerabgang befand, aber er mußte sich zwingen, dorthin zu gehen. Angst meldete sich. Aber ihm war klar, daß er jetzt nicht kneifen durfte.
Du bist es Ricarda schuldig, tust es für deine Schwester! dachte er und öffnete die schaurig knarrende Tür. Ricardas Schuhe steckte er in seine Hosentaschen. Er setzte den Fuß vorsichtig auf die erste Stufe der feuchten Kellertreppe. Es hatte den Anschein, als fürchtete er, damit einen Alarm auszulösen, doch nichts geschah.
Langsam ging er weiter, während sein Herz immer stärker klopfte, und ein dünner Schweißfilm legte sich auf seine Stirn.
Auf halbem Wege blieb er stehen, drehte sich um und schaute nach oben.
Eine innere Stimme warnte ihn, weiterzugehen. Sie riet ihm, umzukehren, aber das war ihm unmöglich. Vielleicht würde er eine schreckliche Entdeckung machen. Vielleicht würde er seine Schwester tot im Keller dieses verfluchten Schlosses finden, aber dann wußte er wenigstens über ihr Schicksal Bescheid und konnte den seltsamen Grafen zur Rechenschaft ziehen.
Er brauchte einen Beweis…
Nervös, mit straff gespannten Nervensträngen erreichte er das Treppenende. Vor ihm lag ein dunkler Gang. Rechts und links gab es gleichfalls einen schummrigen Gang.
Kalt war es hier unten. Widerlich kalt - und der faulige Modergeruch…
Lando Volonte faßte sich ein Herz und ging weiter. Er gelangte zu einer finsteren Nische, in der alte Lumpen an der Decke zu hängen schienen.
Bei genauerem Hinsehen erkannte Lando jedoch, daß es sich um Fledermäuse handelte. Das waren nicht die ersten Fledermäuse, die der junge Mann sah, aber er hatte noch nie so große Exemplare gesehen. Das waren ja schon furchterregende Monster.
Lando schluckte trocken. Er war froh, daß die Fledermäuse noch schliefen. Erst am Abend würden sie erwachen - wie Conte Gassandrini.
Der junge
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