061 - Der Blutgraf
irgendeiner Lüge abspeisen wollte, würde er ihn seine Fäuste spüren lassen. Graf hin, Graf her. Der Mann hatte Ricarda abgeschleppt, und Lando wollte wissen, wo sie jetzt war und wieso sie zu Hause nicht angerufen hatte.
Wenn Marco Cassandrini ihm auf seine Fragen keine zufriedenstellenden Antworten geben konnte, würde sein gräfliches Gesicht ein paar schallende Ohrfeigen einfangen.
Je tiefer Lando Volonte in den Wald vordrang, desto mehr gewann er den Eindruck, daß hier alles tot war. In der Nähe des unheimlichen Schlosses schien die Natur nicht mehr zu leben. Das Schloß schien sie nicht atmen zu lassen.
Nach der letzten Kehre ragte das Schloß so unvermittelt vor Lando Volonte auf, daß er erschrak. Schwarzgrau waren die Mauern, und totenstill war es hier.
In Rom regierte die Hektik, und lärmendes Leben war in den Straßen. Daß es so etwas gab, schien hier undenkbar zu sein.
Volonte stieg aus und zertrat unabsichtlich einen schwarzen Käfer. Das einzige Lebewesen weit und breit. Kein Vogel sang. Nicht einmal Fliegen summten. Die Stille war hier so perfekt, daß sie zur seltsamen Bedrohung wurde. Man fand hier nicht Ruhe, sondern regte sich auf. Jedenfalls empfand es Lando Volonte so.
Seltsam grau war die Natur - abgestorben. Winter im Spätsommer. Es war kein Wunder, daß die Menschen nicht gut über dieses Schloß und den Grafen redeten.
Man sah in ihm etwas Einmaliges, einen Mann, wie es in Rom keinen zweiten gab. Die Frauen umschwirrten ihn wie Motten das Licht. Angeblich war er lange Zeit fort gewesen. Irgendwo im Ausland. Keiner wußte, wo. Aber auch diesbezüglich gab es Gerüchte, und die sprachen von Osteuropa, vielleicht von den Karpaten…
Der Mädchenverschleiß des seltsamen Grafen sollte sehr groß sein, aber was wurde aus den Mädchen, die er mit in sein Schloß nahm? Darüber konnte anscheinend niemand Auskunft geben. Vielleicht schwiegen die Menschen auch aus Angst.
Lando Volonte wollte das Geheimnis des Conte Cassandrini lüften. Dies war mit ein Grund, weshalb er sich hierher begeben hatte. Er hätte auch zu Hause bleiben und auf Ricardas Anruf warten können.
Entschlossen durchmaß Volonte den Schloßhof. Er stieg vier Stufen hinauf, auf denen welkes Laub lag. Der Wind strich darüber und ließ es knistern, rascheln und über den Stein kratzen.
Über dem großen Tor hingen schmutzigweiße Spinnweben. Sie zitterten, als ein Lufthauch sie traf.
Lando Volonte entdeckte einen Klingelring und zog daran. Drinnen läutete eine Glocke. Da es ungewöhnlich still war, hallte das Läuten weit durch das Schloß.
Lando wartete.
Niemand öffnete ihm. Er läutete noch einmal, trat zwei Schritte zurück und schaute zu den Fenstern hoch.
Fast so schmal wie Schießscharten waren sie, und sie ließen bestimmt nicht viel Licht in das Gebäude.
Der junge Mann fühlte sich beobachtet. Stand Conte Cassandrini hinter einer der zugezogenen Gardinen?
»Conte Cassandrini!« rief Lando Volonte laut.
Sogar er empfand es als eine Ruhestörung, die hier nicht willkommen war, aber er nahm darauf keine Rücksicht. Der Conte war ein Nachtmensch, also schlief er mit Sicherheit am Tag.
Lando hätte ihn nicht gestört, wenn sich Ricarda gemeldet hätte. So aber war es ihm herzlich egal, ob sich der Conte darüber ärgerte, daß er hier herumbrüllte. Cassandrini hatte sich mit Ricarda eingelassen, also durfte ihm auch deren Bruder ein paar Fragen stellen.
Wenn Ricarda bei ihm ist, kann sie was erleben! dachte Lando Volonte grimmig. Mir solchen Kummer zu machen.
»Conte Cassandrini!« schrie er so laut, daß ihm die Adern aus dem Hals traten. »Machen Sie auf! Ich weiß, daß Sie zu Hause sind.«
Er trommelte mit den Fäusten gegen die Tür.
»Ricarda!«
Nichts…
»Conte Cassandrini, lassen Sie mich ein! Ich bin Ricarda Volontes Bruder! Ich gehe nicht weg, ehe Sie mit mir gesprochen haben! Ich verlange, daß Sie aufmachen! Oder ist es Ihnen lieber wenn ich mit der Polizei komme?«
Lando Volonte stieg die vier Stufen hinunter, aber er kehrte nicht zu seinem Wagen zurück, sondern suchte nach einer Möglichkeit, wenigstens einen Blick in das Schloß zu werfen.
Da waren welke Kletterrosen neben einer dämmrigen Fensternische. Lando Volonte turnte hinauf, schob sich auf dem Bauch an das staubige Fenster heran - und erschrak im nächsten Moment, denn in der Halle, in die er sehen konnte, lagen Schuhe auf dem Boden.
Ricardas Schuhe!
Sie hatte sie erst vor einer Woche gekauft. Lando war dabei
Weitere Kostenlose Bücher