061 - Der Blutgraf
selten. Der Mensch stumpft ab…
Aber bisher hatte sich Ricarda immer an die Spielregeln gehalten, und die lauteten, zu Hause anzurufen, damit er sich nicht um sie sorgte.
Die Angst um Ricarda nagte an seinen Nerven. Er tigerte in der Wohnung hin und her, rauchte eine Zigarette nach der anderen, überlegte, ob er die Polizei anrufen sollte oder sonst jemanden. Vielleicht eine Freundin von Ricarda.
Auf jeden Fall kam es für ihn nicht in Frage, zur Arbeit zu gehen.
Wenn er in der Pizzeria rechtzeitig anrief, konnte ihn Tonto, der heute seinen freien Tag hatte, vertreten.
Er blieb vor dem Telefon stehen, hüllte sich in blauen Zigarettenrauch ein und blickte durch das geschlossene Fenster auf den Tiber, der sich dort unten durch die Stadt schlängelte.
Er wählte die Nummer der Pizzeria und bekam Giulietta, die Tochter des Chefs, an den Apparat. »Hör zu, Giulietta«, sagte er nervös. »Ich kann heute unmöglich zur Arbeit kommen.«
»Was hast du? Bist du krank?«
»Ja, sag das deinem Vater. Ich bin krank, liege im Bett und werde sehen, daß ich bis morgen wieder auf den Beinen bin.«
»Aber wirklich krank bist du nicht.«
»Nein«, gab Lando Volonte zu. Er wußte, daß er Giulietta trauen konnte. »Es ist wegen Ricarda. Ich muß mich um sie kümmern. Ich habe keine Ahnung, wo sie ist.«
»Ricarda ist kein kleines Mädchen mehr.«
»Aber ich bin ihr Bruder, und solange sie nicht verheiratet ist, fühle ich mich für sie verantwortlich.«
»Na schön, ich sage meinem Vater, daß du sterbenskrank bist.«
»Du bist ein Schatz.«
»Aber morgen sehen wir dich wieder.«
»Ganz bestimmt«, versprach Lando Volonte. »Tonto soll für mich einspringen. Wenn du ihn sofort anrufst, ist er in der Pizzeria, ehe das Abendgeschäft anläuft.«
»Du solltest deiner Schwester mal ordentlich den Kopf waschen«, riet ihm Giulietta.
Er seufzte. »Wenn das bloß helfen würde.«
Lando legte auf, zündete sich eine neue Zigarette an und telefonierte anschließend eine halbe Stunde in der Stadt herum. Die einen taten so, als hätten sie Ricarda schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, die anderen sagten, sie würden Ricarda gern wiedersehen und baten ihren Bruder, es ihr zu bestellen. Nach einer halben Stunde wußte er, daß sie sich Conte Cassandrini angelacht hatte und zu diesem in den Wagen gestiegen war.
Das gefiel Lando gar nicht.
Man erzählte sich so merkwürdige Geschichten über diesen Mann. Wohin war der Graf mit Ricarda gefahren? Hatte er das Mädchen in sein Schloß gebracht? In dieses unheimliche Geisterschloß, über das die Leute ebensoviele schreckliche Geschichten zu erzählen wußten wie über dessen geheimnisvollen Besitzer.
»Vielleicht ist sie bei ihm«, murmelte Lando Volonte, aus dem Fenster blickend.
Aber selbst vom Schloß aus hätte sie wenigstens kurz anrufen können. Es gab Telefon im Schloß, das wußte Lando Volonte. Aber die Nummer hatte man ihm nicht sagen können. Es war eine Geheimnummer, und angeblich hob am Tag niemand ab. Erst nach Einbruch der Dunkelheit war der sonderbare Graf zu erreichen.
»Was hast du mit meiner Schwester gemacht?« fragte Lando grimmig. »Wer bist du, Marco Cassandrini? Warum meidest du das Tageslicht? Und welche Geheimnisse verbergen sich in deinem Schloß?«
Er drückte die Zigarettenkippe in den vollen Aschenbecher und verließ die Wohnung. Mit dem kleinen, wendigen Fiat Panda schlängelte er sich durch die Stadt, deren Straßen wieder einmal an vielen Stellen verstopft waren. Aber für einen kleinen Panda war immer noch Platz. Er flitzte von einer Fahrspur auf die andere, bremste etliche Verkehrsteilnehmer aus, blinkte, hupte, fuhr eben so, wie man in Rom fahren muß, um weiterzukommen.
Bald wurde der Verkehrsstrom dünner.
Lando Volonte erreichte die Stadtgrenze, fuhr nun etwas schneller.
Es war die Straße, die nach Palestrina führte, auf der er sich befand, doch schon nach fünf Kilometern schwenkte er rechts ab, und die schmale Straße, die er nun entlangfuhr, schlängelte sich einen Bach entlang und auf einen düsteren Wald zu.
Die Sonne sank langsam tiefer, bis zur Dämmerung war aber noch Zeit.
Im Wald war es dann fast so dunkel, als wäre es bereits Abend geworden. Lando hielt das Lenkrad fest umklammert. Die Straße stieg an. Vor den Kurven, die sehr eng waren, nahm Volonte immer Gas weg, und nach der Kurve fütterte er den Motor wieder mit Treibstoff.
Er war gespannt, was ihn in Cassandrinis Schloß erwartete.
Wenn der Graf ihn mit
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