061 - Der Blutgraf
mit der Zeit, ein Wettkampf mit Vittorio Fabrici, der ebenfalls versuchen würde, als zweiter das Schloß zu erreichen. Es durfte Vittorio nicht gelingen.
Franco stolperte über einen morschen Baumstamm. Ein heftiger Schmerz zog sich durch sein Schienbein. Er stöhnte leise auf, biß die Zähne zusammen, bückte sich und massierte die schmerzende Stelle.
Da nahm er plötzlich in der Dunkelheit eine Bewegung wahr. Er legte die Hand an die rissige Rinde eines Baumes und strengte die Augen an. Wer war der nächtliche Wanderer?
Eigentlich konnte es nur Vittorio sein. Wer sollte sich sonst um diese Stunde in diesem unheimlichen Wald herumtreiben?
Oder war es Alberto Pasina - auf dem Weg zum Ziel des nächtlichen Orientierungsmarsches? Hätte ich Albertos Zeit beinahe unterboten? fragte sich Franco Bertini. Sein Ehrgeiz trieb ihn weiter. Wenn es ihm gelang, mit Alberto Pasina gemeinsam das Schloß zu erreichen, war er ebenso gut wie dieser.
Er folgte dem Schemen, der durch die Finsternis huschte. Als er auf einen Ast trat und dieser mit einem lauten Knacken brach, war die Gestalt, der er nachschlich, plötzlich verschwunden.
Franco schmunzelte.
Er hat sich versteckt, dachte er. Er verhält sich jetzt ganz ruhig, wartet, bis ich vorbei bin und geht dann allein weiter.
Doch das wollte Franco verhindern, deshalb suchte er den anderen.
Wo dieser sich ungefähr versteckt hatte, glaubte sich Franco Bertini ausrechnen zu können. Auf diese Stelle schlich er zu. Hinter jeden Baum, an dem er vorbeikam, blickte er, und auf einmal hatte er das Gefühl, jemand würde sich hinter ihm befinden.
Hastig drehte er sich um, und da stand tatsächlich jemand.
Aber es war nicht Alberto Pasina, sondern Vittorio Fabrici.
»Wir sind also gleich gut«, stellte Vittorio fest. »Schade. Ich hatte gehofft, dich schlagen zu können.«
Franco Bertini grinste. »Dasselbe habe ich gehofft, denn Alberto zu schlagen ist sowieso unmöglich.«
»Wollen wir gemeinsam weitergehen?«
»Klar. Was für einen Sinn hätte es jetzt noch, uns zu trennen?«
»Das Schloß muß direkt vor uns liegen«, sagte Vittorio. »In längstens fünf Minuten müssen wir es erreichen. Komm!«
Sie setzten den Weg gemeinsam fort und sprachen leise über ihre Erlebnisse während des Orientierungsmarsches.
Plötzlich stieß Vittorio seinen Freund an und blieb stehen. Er wies auf etwas Längliches, Dunkles, das auf dem Boden lag. Es konnte ein Körper sein.
»Alberto«, raunte Vittorio. »Er hat sich in die Plane eingerollt und spielt uns den Schlafenden vor. Er will uns damit zeigen, daß er schon sehr lange hier ist.«
»Los, wir pirschen uns an ihn heran und erschrecken ihn!« schlug Franco Bertini vor.
Vittorio Fabrici nickte begeistert, und dann näherten sie sich der dunklen Rolle, die auf dem schwarzen Waldboden lag.
Laut aufschreiend und lachend fielen sie über Alberto Pasina her. Sie packten ihn und schüttelten ihn und waren froh, daß der Orientierungsmarsch zu Ende war.
Jetzt würden sie die Zeltteile zusammenfügen, müde, aber glücklich in die Stoffbehausung kriechen und sehr bald schon tief schlafen.
Aber Alberto erschrak nicht. Er reagierte überhaupt nicht auf das Getue seiner Freunde. Die jungen Pfadfinder konnten das nicht verstehen. Daß Alberto Pasina nicht mehr lebte, wäre ihnen im Traum nicht eingefallen. Daran dachten sie nicht einmal im entferntesten.
»Alberto!« sagte Franco Bertini und schüttelte wieder die schlaffe Schulter des Freundes. »Nun komm schon, übertreib's nicht. Wie lange willst du uns noch den Schlafenden vorspielen?«
»So fest schlafen nicht einmal Tote«, sagte Vittorio Fabrici und kicherte vergnügt.
Alberto Pasina regte sich nicht.
Allmählich kam das den jungen Pfadfindern doch merkwürdig vor, und Franco Bertini knipste seine Taschenlampe an .
Als er die Verletzungen an Albertos Hals sah, stieß er einen heiseren Schrei aus, und die Lampe wäre ihm beinahe aus der Hand gefallen. Fassungslos starrte er auf die Wunden.
»Vittorio!« preßte er tonlos hervor. »Alberto… ist… tot!«
Vittorio Fabrici traten Tränen in die Augen. Er schluchzte entsetzt und zitterte vor Grauen. »Jemand hat ihn… umgebracht!«
»M-o-r-d-!« krächzte Franco Bertini erschüttert. »Wer?… Wann?… Wieso?…« Er war so außer sich, daß er nur noch stammeln konnte. Wie einen Bruder hatte er Alberto Pasina geliebt, und auf einmal lebte dieser großartige Freund nicht mehr.
»Das muß ein Wahnsinniger getan haben«,
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