061 - Im Reich der Tausend
Hartwig.«
Matt horchte auf. »Wer ist Oberst Hartwig?«
»Der Anführer der Yukonier. Ist eine lange Geschichte. Erzähle ich dir unterwegs. Aber was hast du in der Zwischenzeit gemacht? Wer sind diese Typen?«
Matt deutete nacheinander auf die Späher. »Das sind Nikolaai, Aljooscha und Diimitri. Und draußen vor der Mauer wartet noch ein Gelehrter namens Stepaan.« Matt grinste.
»Während du fort warst, hab ich 'ne erstaunliche Karriere gemacht.« Er grinste. »Ob du's glaubst oder nicht, aber vor dir steht Lejtenant Maddrax aus der Garde Fjodoors des Gütigen.«
Aruula löste sich von Matt. »Fjodoor der Gütige?«, echote sie.
»Ist eine lange Geschichte. Erzähle ich dir unterwegs. Jetzt sag mir lieber, was mit Aiko passiert ist. Und dann zeig uns den Weg zum Lager der fasch… ich meine, der Yukonier…«
***
In Aiko Tsuyoshis Leben gab es Augenblicke, in denen er sich wünschte, über die technischen Errungenschaften seines Vaters und anderen Angehöriger der Androiden-Fraktion zu verfügen.
Zum Beispiel hätte er jetzt einen Gedächtnisspeicher mit der vollständigen Enzyklopädie der alten Welt gut gebrauchen können. Damit wäre es ihm leicht gefallen, das Hoheitszeichen zu identifizieren, das auf den Schultern seiner Bewacherin prangte - ein rechteckiger Aufnäher in den Farben Schwarz, Rot und Gelb. Gewiss wäre es ihm auch leicht gefallen, ihre Sprache zu bestimmen. Vielleicht hätte er sie sogar verstanden.
So jedoch blieb ihm nichts anderes übrig, als mit auf den Rücken gefesselten Händen in dem Raum, der an den Lesesaal einer Bibliothek erinnerte, im Kreis zu gehen.
Zum Glück wussten seine Häscher nichts von der Beschaffenheit seiner mit Kunsthaut überzogenen Plysterox-Arme. Und da er mit einer Körpergröße von nur einem Meter sechsundsiebzig durch die Bank einen Kopf kleiner war als sie, unterschätzten sie mit Sicherheit auch seine Kräfte.
Der Stricke, die ihn banden, hätte er sich im Nu entledigen können. Aber er musste sich noch bedeckt halten, die Fremden in Sicherheit wiegen. Die Stricke zu zerreißen war eine Sache - waffenlos aus dem bewachten Gebäude zu entkommen eine andere. Außerdem hatten sie Aruula als Druckmittel.
Auch von seinem implantierten Netzhautverstärker, mit dem er auch bei Dunkelheit sah und die Umrisse ihrer Wärmebilder wahrnahm, wussten sie nichts. Sie hatten versucht, ihn in einer merkwürdig altertümlichen Form des Englischen auszufragen. Doch er hatte eisern geschwiegen, nicht zuletzt, weil er ihre Fragen auch beim besten Willen nicht hätte beantworten können.
Das Reich der Tausend… Das Fürstentum Yukonia… Beistandspakt… Räuberische Horden von der Beringstraße… Er hatte keinen Schimmer, was sie damit meinten, und hielt es für besser, erst einmal nichts über sich zu verraten.
Andererseits hätte auch er gern mehr gewusst; zum Beispiel, wo Matthew Drax gerade war und was er zu Aruulas und seiner Rettung plante. Der genaue Herkunftsort und die Ziele seiner Häscher interessierten ihn auch, aber wenn sie sich untereinander verständigten, benutzten sie eine Sprache, die ihm völlig unbekannt war.
Es war eine gemischte Gruppe aus zwei Völkern. Ihr Anführer, Hartwig, war ein Weißer. Sein Stellvertreter Nanuuk schien Asiate zu sein. Seine Bewacherin hatte langes schwarzes Haar und mandelförmigen Augen. Sie gehörte ebenfalls zum asiatischen Typus und war etwa Mitte zwanzig - in Aikos optischem Alter also, obwohl er in Wahrheit schon über vierzig war. Sie betrachtete ihn so interessiert, dass er beschloss, sein Schweigen zu brechen.
»Was ist das für eine Sprache, die ihr sprecht?«, fragte er auf Englisch.
Ein amüsiertes Lächeln spielte um die vollen Lippen seiner mandeläugigen Bewacherin. »Deutsch. Die Sprache unseres Vo lkes«, erwiderte sie.
Aiko stutzte. »Ihr seid ein Volk? Aber… ihr seht nicht gleich aus.«
Seine Bewacherin nickte. »Früher waren wir zwei Völker, aber wir haben uns vereint, um zu überleben.« Sie stand auf, ließ Aiko jedoch nicht aus den Augen. »Deine Sprache wurde früher bei uns auch gesprochen, aber nur im Dienst.«
»Das ist interessant.« Aiko setzte ein freundliches Lächeln auf. »Ich würde gern mehr über dich und dein Volk erfahren.«
»Wenn du mir im Gegenzug von deiner Heimat erzählst, vom Reich der Tausend…«
Endlich begriff Aiko. Diese Typen hielten ihn offenbar für einen Bewohner dieses ominösen Reiches, das sie suchten und das hier irgendwo in der Nähe liegen
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