0612 - Eine Nacht im Hexenschloß
soll ich warten?«
Sarah lächelte. »Vielleicht auf den nächsten Anruf. Oder wäre das so ungewöhnlich?«
»Bestimmt nicht.«
»Na«, die alte Dame nickte entschlossen, »dann werden wir mal gemeinsam warten. Wenn du recht hast, wird sich das unbekannte Wesen wieder melden.« Sie war aufgestanden und tippte Jane gegen die Schulter. »Bis es soweit ist, können wir uns einen wunderbaren Tee kochen. Der wird uns guttun, den haben wir uns auch verdient.«
Nach diesen Worten verschwand sie in der Küche und ließ eine nachdenkliche Jane Collins zurück. Sie hatte der Horror-Oma nicht alles erzählt. Während des Anrufs hatte sie einen Stich in ihrer Brust verspürt. Er war wie eine Flammenzunge dorthin gefahren, wo ihr Herz schlug, und das mußte etwas zu bedeuten haben. Deshalb war sie auch davon ausgegangen, daß dieser Anruf mit dem Dasein zusammenhing, das sie einmal als Hexe und Teufelsdienerin geführt hatte, denn völlig befreit worden war Jane Collins davon nicht.
Etwas war zurückgeblieben. Zwar verschüttet, aber vorhanden, und sie wußte auch, daß es hervorgeholt werden konnte, wenn bestimmte Ereignisse eintraten.
Jane Collins stand auf und ging in die Küche, wo das Teewasser schon kochte.
»Na, wieder alles okay?«
Jane lächelte. »Wie man’s nimmt. Ich warte wirklich darauf, daß sich der Anrufer noch einmal meldet.«
»Oder die Anruferin.«
»Auch das ist möglich.« Jane verließ die Küche und deckte im Wohnraum den Tisch. Mit gerunzelter Stirn und irgendwie vorsichtigen Bewegungen stellte sie das hauchdünne Porzellan hin. Mit ihren Gedanken war sie ganz bei dem Anruf.
Lady Sarah kam mit dem Tee, auf den Lippen lag ein aufmunterndes Lächeln. »Zieh nicht so ein Gesicht, Jane, der Kopf wird dir schon nicht abgerissen.«
»Bestimmt nicht.«
»So.« Sarah stellte die Kanne ab, ging zum Schrank und holte eine Dose mit Gebäck hervor. Sie stellte sie neben die Kanne, wollte einschenken, als das Telefon abermals anschlug.
Da passierte es.
Im gleichen Moment, praktisch mit dem ersten Klingeln, zersprang auch die Kanne, und der heiße Tee ergoß sich über den Tisch…
***
Die unbekannte, fast nackte Frau hielt den oben offenen Totenschädel mit beiden Händen fest, kippte ihn jetzt weiter und schlürfte ihn leer. Das Bild stand wie ein furchtbares Gemälde vor den Augen des Beobachters, der die Szene kaum fassen konnte, weil sie einfach zu irreal war. Dennoch mußte er zugeben, daß er in den vergangenen Minuten schon soviel Außergewöhnliches erlebt hatte, daß es auf dieses unnatürliche Trinken auch nicht mehr ankam. Zudem war es ja nicht sicher, ob die Frau tatsächlich Blut trank.
Er sah sie im Profil, und er bekam auch mit, wie sie mit sehr langsamen Bewegungen den Schädel wieder zurück auf den Tisch stellte, als hätte sie Furcht vor einem Zerbrechen.
Der Mann schaute auf ihren nackten Rücken. Nur unterhalb der Hüften trug die Frau so etwas wie einen Gürtel, der möglicherweise gerade noch ihre Scham bedeckte.
Am linken Handgelenk schimmerte ein breiter Reifen in einem tiefen Goldton. Ihr langes Haar sah aus, als wäre es mit Lack bestrichen worden, aber es schien einen natürlichen Glanz zu besitzen.
Die Frau saß auf dem Stuhl und bewegte sich jetzt etwas nach rechts, so daß der Historiker den Gegenstand erkennen konnte, der neben ihrem Arm seinen Platz auf dem Tisch gefunden hatte.
Es war ein Messer, kein normales, sondern eins mit einer Klinge aus Horn.
Obgleich er einen Anzug aus dickem Cord trug, zitterte er. Hinter den Brillengläsern bewegten sich seine Augen, und er stellte sich zahlreiche Fragen auf einmal.
Was sollte er tun? Wer war die Frau?
Von einer Schloßbesitzerin hatte er bisher nichts gehört, und wenn ja, dann setzte sie sich bestimmt nicht fast nackt in eine kalte Eingangshalle. Nein, diese Person war etwas Besonderes, und Ronald Archer ging davon aus, daß sie unmittelbar etwas mit den im Zimmer erlebten Vorgängen zu tun hatte.
Das Zimmer brachte ihn auf eine Idee. Vielleicht war es doch besser, wenn er sich wieder in den Raum zurückzog. Eine bluttrinkende Frau, die ein Messer neben sich liegen hatte, erschien ihm noch gefährlicher als alles andere.
Sein Entschluß wurde durch die Tritte entmachtet, die er über sich hörte.
Das war wieder die leere Rüstung, die sich erhoben haben mußte und jetzt durch den Gang schritt.
Und er?
Archer war durcheinander. Er mußte sich innerhalb der folgenden Sekunden entscheiden, aber was, zum
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