0612 - Eine Nacht im Hexenschloß
Henker, sollte er tun?
Er blickte wieder nach vorn – und hatte das Gefühl, von einem Stromstoß erwischt zu werden.
Es hatte sich kaum etwas verändert, aber das Wenige reichte völlig aus, um den Mann aus der Bahn zu bringen.
Die unbekannte Frau unten in der Halle hatte sich auf ihrem Stuhl gedreht und schaute ihn an.
Obwohl eine gewisse Distanz zwischen ihnen lag, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, als würde sie nur ihn, gerade ihn aus nächster Nähe anschauen, und auch Archer bekam vor Staunen große Augen, denn dieser dunkle Blick zwang ihm einen Willen auf, der seiner Meinung nach nicht von dieser Welt stammte.
So etwas hatte er noch nicht erlebt. Der Blick ging ihm durch und durch und erfüllte ihn wie die Kraft einer heißen Sonne. Lag es an den Augen oder an dem ungewöhnlichen Stein, der an eine Kette vor der Stirn hing.
Welch ein Gesicht!
Archer war fasziniert von den reinen, sehr klaren normalen Zügen, von der hellen Haut, der geraden Nase und dem wunderschön geschwungenen Mund mit den Kußlippen.
Ja, sie war fast nackt. Nur um die Hüfte herum wand sich so etwas wie ein schmaler Gürtel. Die Mädchen in Rio trugen ähnlich knappe Tangahöschen, die natürlich mehr zeigten, als sie bedeckten. Seine Blicke strichen über die weißen Brüste der Frau.
Die Person sagte nichts, sie schaute nur, und der Blick kam Archer vor wie ein stummer Befehl, dem er nichts entgegenzusetzen hatte.
Er mußte einfach gehen.
Und er ging.
Innerhalb der letzten dreißig Sekunden war er zu einem anderen Menschen geworden, obwohl er äußerlich gleich aussah. Er schritt die Stufen hinab und glaubte dabei, als fremde Person auf dieser Welt und in diesem Schloß einherzugehen. Archer war nicht mehr er selbst, eine andere Kraft hatte ihn unter Kontrolle.
Die Frau rührte sich nicht. Nur ihre dunklen Pupillen bewegten sich und verfolgten den Mann genau.
Waren die Lippen dieser Person tatsächlich von Natur aus so rot, oder klebte noch das Blut aus dem Schädel an ihnen? Diese Frage schoß ihm durch den Kopf, als er auch die letzten Stufen überwand und auf dem Steinboden weiterging.
Hier unten hatte der Erbauer des Schlosses auf Holz verzichtet und quadratische Steine gelegt.
Kaum hatte Archer die letzte Stufe hinter sich gelassen, als sich die Frau erhob. Sehr langsam, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Sie sprach nicht; in ihrem Gesicht blieb alles glatt wie Stein, sie schaute nur.
Und Archer schaute ebenfalls…
Er ging wie auf Wolken. Diese fast nackte, für ihn namenlose Gestalt dort lockte ihn an, so daß er nicht anders konnte, als auf sie zuzuschreiten.
Dann bewegte sie den linken Arm. Sie winkte ihn nur ein wenig an, doch das Zeichen reichte aus, um Archer schneller gehen zu lassen. Plötzlich wollte er zu ihr, es gab keine andere Möglichkeit für ihn. Er mußte sie einfach anfassen.
Bevor es soweit war, streckte sie ihm ihre Hand entgegen und stoppte ihn mit der Fläche. Trotz seiner dicken Kleidung spürte er die Kälte, die über seine Haut strich.
Eine Kälte, die von der Frau ausging.
Sie schauten sich an, und Archer bewegte mühsam seine Lippen, um eine Frage stellen zu können. »Wer bist du?«
»Orania.«
Die Frau nannte nur ihren Namen, mehr nicht, und Archer sann darüber nach, wo er ihn schon einmal gehört hatte. Er kam nicht darauf, der Name war ihm unbekannt. Selbst bei seinen historischen Forschungen war er nicht über ihn gestolpert.
»Müßte ich ihn kennen?«
»Ich weiß es nicht.« Sie hob die nackten Schultern und lächelte ihm zu. »Wichtig ist, daß du gekommen bist.«
»Ich?«
»Ja du.«
Er hob die Schultern, noch immer irritiert. »Ich kam, weil man mich schickte. Ich sollte das Schloß prüfen, wenn du verstehst.«
Himmel, wie leicht es ihm fiel, diese an sich doch fremde Person mit dem vertraulichen Du anzureden.
»Ja, Ronald.«
Archer erlebte abermals eine Überraschung. »Du… du kennst meinen Namen?«
Sie nickte. »Ich habe auf dich gewartet, mein Lieber. Du bist gekommen, ich wußte es.«
»Sicher, aber ich muß wieder gehen.«
»Wann?«
»Gleich.«
»Nein, du bleibst!«
Archer widersprach nicht. Er wunderte sich selbst darüber, daß er es hinnahm. Er hatte sich vorgenommen, in den nächsten Ort zu fahren, um dort zu übernachten. Sollte das jetzt alles hinfällig sein?
Orania streckte ihm die Hand entgegen und berührte sein Gelenk.
Wieder spürte er die Kälte und traute sich diesmal, eine Frage zu stellen. »Wo kommst du her?«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher