0614 - Werwolf-Begräbnis
vorgekommen war. Und sie dachte an ihr eigenes Schicksal.
Hatte man sie entführt, um sie ebenfalls zu einem Teil dieses makabren Totenackers zu machen?
Allmählich verdichtete sich dieser Gedanke zu einer fürchterlichen Gewißheit, denn sie konnte sich einfach keinen anderen Grund vorstellen. Ihr Hals war mittlerweile absolut ausgetrocknet. Wenn jemand versucht hätte, mit ihr zu reden, wäre ihr das kaum gelungen.
Männer und Frauen…
Sie stolperte bei diesem Gedanken, denn sie hatte bisher keinen Frauenkopf aus dem Boden ragen sehen. Es waren nur die Gesichter der Männer gewesen, die aus leeren Augen in eine imaginäre Ferne starrten, als würden sie dort Dinge sehen, die anderen Menschen verborgen blieben.
Trotz ihrer Furcht versuchte Glenda herauszufinden, ob es auf diesem makabren Friedhof ein gewisses System gab, was die Anordnung der Schädel anging. Das war nicht möglich, man hatte die Körper wohl willkürlich an bestimmten Stellen begraben.
Doch warum nur?
Glenda fand einfach keine Lösung. Sie entdeckte auch keinen Menschen, bei dem sie sich hätte erkundigen können, sie bewegte sich völlig allein zwischen den Schädeln.
Und sie fand ihren Weg. Glenda ging nicht, sie stakste, denn sie wollte auf keinen Fall mit den Füßen gegen die Köpfe treten. Aber sie nahm sich die Zeit und schaute in jedes Gesicht hinein.
Dort sah sie überall den gleichen Ausdruck. Die toten Augen, die dicken, vom heißen Sonnenlicht aufgequollenen Lippen, die aschige graue Haut, die sicherlich bald abfallen würde, obwohl sie da nicht sicher war, denn die Haut zeigte für ihren Geschmack einen öligen Glanz.
Yard für Yard legte sie zurück, bis sie auch den letzten Kopf erreicht hatte.
Da erschrak sie fast zu Tode!
Sie hatte nur einen flüchtigen Blick auf das Gesicht geworfen und dabei auch die Augen nicht ausgelassen und wollte schon weitergehen, als sie das Flattern der Wimpern sah.
Lebte der Mensch noch?
Glenda blieb stehen, wollte nicht hinsehen, schalt sich eine Närrin, rechnete auch damit, daß der leichte Windstoß über das Gesicht und die Wimpern hinweggeglitten war, daß sie sich einfach getäuscht hatte, aber dem war nicht so, wie sie beim zweiten Hinblicken feststellen konnte.
Diesmal bewegten sich nicht nur die Wimpern, auch die Lippen zitterten leicht.
Der Mann lebte noch!
Glenda wäre am liebsten fortgelaufen, das wiederum brachte sie nicht fertig und drückte sich dicht vor dem Kopf nieder, um ihn genau ansehen zu können.
Die Haut war angegriffen worden. Käfer oder andere Insekten hatten ihre Spuren hinterlassen. Auf dem Gesicht bildeten sich winzige Geschwüre wie kleine Hügel. Über die Hälfte war bereits aufgeplatzt. Die Flüssigkeit war in kleine Bahnen über die Haut gezogen.
Sie kniete vor dem Kopf, in dessen Augen noch immer kein Erkennen lag. Dieser Mensch stand bereits auf der Schwelle vom Diesseits zum Jenseits. Es glich schon einem kleinen Wunder, daß er überhaupt noch lebte. Glenda starrte die Lippen an, weil sie von ihnen den Wunsch des Mannes ablesen wollte. Sie konnte sich auch vorstellen, was er wollte, und Glenda verstand auch den Hauch.
»Wasser…«
Fast hätte sie gelacht, so schlimm war für sie dieser Wunsch des Menschen. Woher sollte sie in dieser trockenen Landschaft das Wasser hernehmen?
Auf ihrem Weg über den furchtbaren Friedhof hatte sie bisher keine Quelle entdeckt. Das Wasser, das dieser arme Mensch verlangte, würde für ihn ein Wunsch bleiben.
»Wofür?« flüsterte sie zurück, wobei Glenda ihre eigene Stimme kaum wiedererkannte. »Wo finde ich Wasser?«
Er gab ihr keine Antwort. Die rissigen, mit Schorf bedeckten Lippen formten noch einmal denselben Wunsch, dem Glenda nicht nachkommen konnte.
Sie fühlte sich unwahrscheinlich hilflos. Über ihr Gesicht lief der warme Schweiß, während auf ihrem Rücken eine kalte Gänsehaut lag. Es war ein völliges Durcheinander, was sie persönlich nicht steuern konnte. Hier regierten andere Kräfte, und die wiederum hielten sie eiskalt unter Kontrolle.
Was sollte sie tun?
Glenda gehörte zu den Menschen, die sich für andere einsetzten.
Wenn sie hier hockte und zusah, wie der Mensch allmählich starb, würde sie ihres Lebens nicht mehr frohwerden, deshalb mußte sie einfach etwas unternehmen.
Aber was?
Die einzige Chance bestand darin, daß sie den Mann aus seiner furchtbaren Lage befreite. Im Klartext hieß das: ausgraben.
Und das ohne Werkzeug, deshalb versuchte es Glenda mit den bloßen Händen.
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